Ich bin dann mal weg – Die Rückkehr, Teil 1
Eine Zeitreise
Vor knapp zehn Wochen habe ich damit angefangen diesen Blog zu schreiben, als ich mich gerade im Zug in Richtung Italien befunden habe. Zur Feier des Tages gibt es heute gleich zwei Wochen in einem Text zusammengefasst und einen kleinen Rückblick auf die hinter mir liegenden zweieinhalb Monate – zum Einen um mit dem Schreiben wieder im Hier und Jetzt anzukommen und zum Anderen um zu reflektieren, was schon bis jetzt alles passiert ist. Wenig war es jedenfalls nicht! Aber nun gut: Wir machen eine Zeitreise zwei Wochen in die Vergangenheit zu dem Wochenende als sich Italien gerade anfing zu entsommern und damit begann sich einzuherbsten. Schwupps! (denn so klingen bekanntlich Zeitreisen)
Der Herbst ist da! Noch ist die Luft warm und die Wetteraussichten eher rosig als regnerisch aber Giorgio hat schon davon berichtet, dass es nicht mehr lange dauern kann, bis Perugia sich von seiner hässlichen Seite zeigen wird und keiner mehr ohne Regenschirm aus dem Haus geht. Aber hey, ich bin ja Aachen-erprobt und ein echter Öcher geht niemals ohne Schirm aus dem Haus. Auch nicht im Sommer. Mit Schnee ist hier allerdings wohl nicht zu rechnen, wenn überhaupt dann mit bräunlich-grauem Schneematsch, dafür aber mit viel Wind und Regen.
Pünktlich zum Wetterwechsel machen sich bei mir die ersten Ermattungserscheinungen breit. Ich bin geplättet von zwei aufeinanderfolgenden Wandertagen am Monte Tezio und in Spoleto aber es scheint jetzt so, als ob dazu noch eine Erkältung käme. Zumindest hat es in den letzten Tagen erst Verena, dann Long, Rémi sowie Anais und ihren Freund erwischt und hingerafft und anscheinend jetzt auch mich. Mach ich mal das Beste draus: Tee trinken und die dicken Klamotten aus dem Schrank holen. Und mich mit den anderen zum Herbst-Dinner verabreden! Immerhin haben wir ja gestern noch bestimmt ein halbes Kilo Esskastanien (castagne) gesammelt. Bei Kartoffelpü, Ofengemüse, Maroni, Käse und dem obligatorischen Rotwein lassen wir den ersten richtig herbstlichen Abend ausklingen.
Warum wir uns nicht einfach selbst kaputtstrahlen
Passend zu meiner Erkältung nehme ich mir zwei Tage Zeit um mich nach den morgendlichen Vorlesungen direkt nach Hause zu verkriechen und an meinem Vortrag zu arbeiten. Ich versuche es mal eben aufs Wesentliche runterzubrechen (wer sich den Spaß entgehen lassen will, sollte lieber schon zur nächsten Zwischen-Überschrift weiterspringen): Protonen sind die winzigen positiven elektrischen Ladungsträger in Atomkernen und im Prinzip spricht nichts dagegen davon auszugehen, dass sie stabil sind, also nicht in andere Teilchen zerfallen könnten. Alles andere wäre (je nachdem) auch ziemlich katastrophal: Angenommen, Protonen würden häufig zerfallen, wäre menschliches, ja eigentlich jegliches Leben unmöglich: Immerhin wären wir dann selbst radioaktiv und würden uns selbst unsere DNS kaputtstrahlen. Also können wir schonmal daraus folgern, dass Protonen ziemlich stabil sein müssen. Alles klar, weiter machen! … müsste man denken. Aber die Physik wäre ja nicht die Physik, wenn sie sich mit einfachen Antworten zufrieden gäbe und nicht alles bis ins kleinste Detail hinterfragen würde.
Also: Wie kann man noch stärkere Grenzen für die Lebensdauer eines Protons finden? Einfache Antwort: Wir gucken uns noch mehr Protonen als die an, die wir in unserem Körper mit uns rumtragen und hoffen, dass wir irgendwie messen können, wenn eins davon zerfallen sollte. Das ginge entweder über den beim Protonzerfall zurückgestoßenen, verbleibenden Atomkern oder über die Reaktionsprodukte des Zerfalls. Die aktuell beste Lösung für dieses experimentelle Problem liegt in Japan in einem kleinen Bergdorf namens Kamioka, das unter Physikern weltbekannt für das Großprojekt Super-Kamiokande ist: Im Endeffekt ein riesiger Wassertank mit Kameras, in dem Tag und Nacht im Wasser nach Leuchterscheinungen gesucht wird, die verschiedene Quellen haben können. Eine davon sind zerfallende Protonen.
Das Messergebnis des Langzeit-Experiments mit 55 Millionen Litern hochreinem Wasser ist, dass ein Proton eine Lebensdauer von mehr als zehn Quintilliarden Jahren haben muss. Zur Erinnerung: Das Universum ist knapp 14 Milliarden Jahre alt, was eine absolut winzige Zahl gegenüber zehn Quintilliarden Jahren ist. Genau genommen so winzig, dass ich wirklich keinen guten Vergleich dafür finden kann. Fest steht jedenfalls: wir haben noch kein einziges Proton zerfallen sehen. „Dann ist ja alles gut“, müsste man denken; immerhin strahlen wir uns so nicht einfach selbst kaputt. Stimmt. In gewisser Weise ist das Resultat aber auch für theoretische Physiker gut, die sich ja angeblich weniger um Menschen scheren: Die mathematisch zwar ansprechende aber nicht wirklich alle teilchenphysikalischen Probleme aus der Welt schaffende Georgi-Glashow-SU(5)-Theorie ist durch vergleichbare Experimente seit Mitte der 90er aus dem Rennen für die GUT (Grand Unified Theory; große vereinheitlichte Theorie), die ich im letzten Blogeintrag schon mal kurz erwähnt hatte. Es verbleiben noch einige weitere „realistische“ Theorien, die aber fast alle eine Lebensdauer für Protonen vorhersagen, die kurz über der aktuell messbaren Grenze liegt, aber gleichzeitig auch noch einige andere existenzielle Probleme unseres Verständnis der Natur auf besonders elegante Art und Weise aus dem Weg räumen würden.
Durch ein Upgrade des Super-Kamiokande-Experiments auf eines mit einen 20-mal größeren Wassertank (das natürlich Hyper-Kamiokande heißen wird) werden ab 2025 dann auch diese Theorien falsifiziert werden können – wenn sie denn tatsächlich falsch sein sollten. Wenn sich herausstellen sollte, dass eine der Theorien die richtige Protonen-Lebensdauer prophezeit hat, ist der Träger des nächsten Nobelpreises jedenfalls sicher und ein neues, tieferes Verständnis der uns umgebenden Welt garantiert. In meinem Vortrag habe ich einen Überblick über die Motivationen der verschiedenen GUTs gegeben, die experimentellen Methoden und Grenzen besprochen und exemplarisch für den Fall der Georgi-Glashow-SU(5)-Theorie die Lebensdauer des Protons hergeleitet. Der Vortrag ist netterweise hier einsehbar.
Nasenflügelbeben, die Zweite
Der Vortrag lief super. Nach knapp eineinhalb Stunden Reden befinde ich mich glücklich und zufrieden auf dem Weg nach Hause, wo Sara alle zum Frühstück bei Rührei und Cornetti eingeladen hat. Dass es auf dem Rückweg anfängt zu regnen, ist durch den gut gelaufenen Vortrag und die Aussicht auf ein zweites Frühstück eher ein Grund für mich laut I‘m singing in the rain zu pfeifen als bedröppelt nach Hause zu laufen. Ich besorge in der Bar an der Piazza Morlacchi noch schnell etwas Cornetto-Nachschub und setze mich dann dazu und berichte Hannah, Ariane, Jane, Sara, Verena, Lukas sowie Flo und seiner Freundin, die heute anscheinend alle nicht so früh zur Uni müssen, von meinem Vortrag.
Wir besprechen unsere Pläne für die nächsten Tage: Morgen wollen wir zusammen Halloween feiern, weil uns das Alternativprogramm von ESN absolut nicht zusagt: Wir wollen den (vermutlich wenigen, aber omnipräsenten) Spaniern entgehen die wieder jedem zeigen wollen, wie man „richtig“ Spaß hat. Mitte nächster Woche laden wir dann zum Geburtstagfeiern bei uns in die WG ein. Nach zwei, drei Tagen, die nur für den Vortrag draufgingen, sind das wirklich wunderbare Aussichten. Bis nächste Woche müsste dann auch meine Erkältung weg sein.
Der slawische Fürst der Dunkelheit und seine Aubergine
Flo und Lukas haben vom Metzger ihres Vertrauens wieder ein Stück pancetta, also ein fettes Stück Schweinebauch, geschenkt bekommen und laden zu sich zum Carbonara-Essen ein – für die Fans der vegetarischer Küche gibt‘s spaghetti cacio e pepe, die Spaghetti-Variante, die wir in Rom kennengelernt hatten. Und was soll ich sagen? Schwierig ist es tatsächlich nicht, das zu kochen. Wird also ins Programm aufgenommen!
Nach einem kurzen Stopp beim Plastikflaschen-Wein-Kiosk geht‘s auf zu Natacha zum Halloween-Feiern. Besonders beliebt scheint die amerikanische Festlichkeit in Italien nicht zu sein, auf dem Weg dorthin begegnen wir gerade einmal einen einsamen Hexe, die sich offenbar auch eher fehl am Platz fühlt. Das müssen wir ändern: Bei Natacha angekommen, verschwinden einige der Mädels erstmal für eine Stunde und kommen schließlich als zerbrochene Grusel-Puppen oder Vampire wieder zurück in die Welt der Lebenden. Das kann ich natürlich nicht so auf mir sitzen lassen; wie schlecht würde ich mich fühlen, wenn ich ohne verwischte Karnevals-Schminke und ohne entstelltes Gesicht von einer Halloween-Party zurückkehren würde? Ich bitte also Sara sich mit der Schminke an mir auszutoben, Hauptsache irgendwie gruselig. Heraus kommt ein blässlicher Vampir mit rötlich-umflaufenen Augen und tiefen Augenwülsten. Nicht schlecht!
Mit Federica und ihrem italienischen Anhang, Musik, die sich irgendwo in den 90ern einpendelt, und einer kugelrunden Aubergine, die Hannah in einen Gruselkürbis umfunktioniert hat, feiern wir bis in die frühen Morgenstunden. Nicht unbedingt die beste Idee bei einer Erkältung, aber man muss die Feste ja schließlich feiern, wie sie liegen. Was ich allerdings ein bisschen bereue, ist mein anschließender, verzweifelter Versuch mithilfe von Duschgel und Desinfektionsmittel die verdammte Schminke aus meinem Gesicht zu schrubben. Das muss nun wirklich nicht nochmal sein.
Die Pommessuche, Teil 2 – Pantoffeln mit Glöckchen
Am Wochenende finde ich durch die Erkältung endlich wieder etwas Zeit, mein Leben zu sortieren, Wäsche zu waschen und Termine zu machen. Glücklicherweise bin ich so fit, dass ich sogar etwas Lesen und Einkaufen kann. Als ich mich letztendlich durch eine absurde Menge Zitronen-Ingwer-Tee wieder besser fühle, traue ich mich sogar wieder zum Friseur und lasse mir den ehemaligen Millimeter-Schnitt so korrigieren, dass daraus innerhalb der nächsten zwei Monate eigentlich wieder meine Standard-Frisur werden müsste und unterhalte mich nett mit dem parucchiere. Nach erneuten zwei Tagen Isolation ist jetzt auch absehbar, dass ich zu meinem Geburtstag am Montag wieder fit sein sollte. Jippieh.
Für den Sonntagnachmittag habe ich mich mit Sara und Flo zum Stadtspaziergang verabredet. Beim gestrigen Weg zum Einkaufen hatte mich schon wieder fast der Schlag getroffen, als mir Menschenmassen aus dem Stadtzentrum entgegenkamen und offenbar ein vorzeitig geöffneter Weihnachtsmarkt seine Stände aufgebaut hat. Ein bisschen Recherche ergab, dass es sich anscheinend um die Fiera dei Morti (den Toten-Jahrmarkt) zur Feier von Allerheiligen (Ognissanti) bzw. Allerseelen (I morti) handelt. De facto ist es aus deutscher Perspektive ein zu früher, kurzer Weihnachtsmarkt mit einem etwas stärkeren Fokus auf die aktuellen Ernteerzeugnisse und dafür weniger auf Glühwein.
Doch Petrus meint es offenbar heute nicht gut mit uns. Gerade nachdem ich mir ein fettes Stück Ziegenkäse mit Kräutern habe aufschwatzen lassen, fängt es an zu regnen. Es dauert keine fünf Minuten und unser kleiner Spaziergang findet sein jähes Ende an einem gut geführten Kaktus-Sukkulenten-Stand durch einen augenblicklich aufgezogenen Sturm. Innerhalb von Sekunden sind wir trotz unserer Regenschirme klatschnass, sehen nur noch wie die Standbesitzer in Windeseile ihren Plunder in Sicherheit bringen und müssen uns in einem Klamottengeschäft Unterschlupf suchen um nicht vollständig „gebadet“ (bagnato) dazustehen. Die Wollpullis sehen witzig aus. Ich werde die Tage nochmal vorbei kommen müssen, um mir das Sortiment nochmal genauer anzuschauen.
Als der Regen gerade ein bisschen nachgelassen hat, entschließen wir uns, den Spaziergang über den jetzt ziemlich geschlossenen Allerheiligen-Markt zu verschieben und dafür lieber ins Cafè Alphaville zu gehen, in dem Federica arbeitet und das von uns ob seiner gelben Bestuhlung inzwischen liebevoll „das gelbe Cafè“ genannt wird. Fede ist gerade leider nicht da, dafür aber Jane und Natacha. Hannah schaut auch eben vorbei. Einen Apfelkuchen und eine ciocolata calda (heiße Schokolade) später sieht die Welt zwar nicht unbedingt sonniger aus, dafür kommt sie uns nun aber angemessen herbstlich vor. Die Idee, ein weiteres Stück Kuchen zu essen, verwerfen wir zugunsten des Plans, gleich Pommes mit Majo essen zu gehen. Anscheinend bin ich nicht die einzige Person, die es keine drei Monate ohne eine ordentliche Portion Pommes aushält. Gerade als wir aufbrechen wollen, kommt Federica herein und freut sich uns zu sehen. Wir erklären ihr, dass wir dringend eine Pömmse finden müssten, worauf sie uns eine andere Frittenschmiede neben der, die mir zuletzt von Giorgio empfohlen wurde, vorschlägt. Wir machen uns auf den Weg, doch Hannah hat offenbar weniger frittierte Pläne und nennt uns nur „treulose Tomaten“ als wir sie nicht zum Lidl in der Nähe des Hauptbahnhofs begleiten wollen. Eigenartig.
Mit einer großen Portion Pommes Majo von einem Kiosk an der Piazza IV Novembre setzen wir uns in mein Zimmer und planen den restlichen Abend. Die Pommes sind tatsächlich nicht schlecht. Die Majo hingegen ist eher dürftig, für eine Notfall-Pommes aber durchaus geeignet. Sehr schön. Flo will eben nach Hause um dann zum Abendessen wieder da zu sein. Auf dem Rückweg haben wir nämlich neben einem wirklich absurd dämlich aussehenden Paar Hausschuhen im Weihnachtsmann-Elfen-Design mit Glöckchen auch Esskastanien gekauft. Erstgenanntes nicht nur aus der Motivation heraus, warme Füße zu haben und bald Weihnachtsstimmung zu verbreiten sondern auch um ein abartiges Gebimmel in der WG erschallen zu lassen, wenn ich mich durch die Flure bewege, dass bald jedem in Hörweite auf die Nerven gehen müsste. Ich bin gespannt, wie lange es dauern wird, bis einer die Glöckchen abschneidet. Nennen wir es ein soziales Experiment. Als Flo wieder zu uns in die WG kommt, haben sich jedenfalls alle schon über die Plüsch-Schlappen lustig gemacht. Nach einer guten Portion Nudeln setzen wir uns mit dem Ziegen-Kräuter-Käse und den Maronen wieder in mein Zimmer und pellen Esskastanien und bewegen uns geradewegs Richtung Montag und somit in meinen Geburtstag hinein. Hatte ich so auch noch nie. Sehr cool.
Mein erster Geburtstag außerhalb von Deutschland
Offenbar war die Eselsbrücke, wie man sich meinen Geburtstag merken kann (nur an die zentrale Piazza IV Novembre in Perugia denken) hilfreich für die anderen in der WG. Nach zwei Geburtstags-Anrufen meiner beiden Omas und einer witzigen Video-Nachricht meiner Familie, die das obligatorischen Tasillo‘sche Geburtstags-Aufwach-Ständchen ersetzen sollte, werde ich beim Frühstück von Verena und Sara mit einer Kerze auf dem Tisch und Glückwünschen begrüßt. Als plötzlich Hannah in unserer Küche auftaucht und super unauffällig nichts sagt und Sahne schlägt, werde ich etwas skeptisch. Hannah steht sonst nie zu solchen unchristlichen Zeiten bei uns auf der Matte. Als mir dann noch eine Gabel hingelegt wird, verstehe ich und spiele das Spiel mit und bin natürlich überrascht, als Hannah mir dann doch noch gratuliert, nachdem ich die Kerzen ausgepustet habe und „Heute kann es regnen, stürmen oder schnei‘n“ über mich ergehen lassen habe. Hannah hat sogar einen Kirsch-Nuss-Kuchen gebacken und erklärt jetzt auch, warum sie gestern unbedingt noch so spät zum Lidl musste: Kirschen gibt‘s nur dort.
Nach der Uni und dem Beantworten der lieben Geburtstagstelefonate und -nachrichten steht Einkaufen auf dem Plan. Sara und ich schnappen uns die großen Tüten aus dem Kabuff neben der WG-Waschmaschine und machen uns auf die Suche nach dem Lidl, der irgendwo beim Bahnhof liegen sollte. Nach zwanzig Minuten Suchen finden wir endlich den ziemlich deutschen Discounter, bei dem wir uns für die Party morgen eindecken wollen. Wir wollen meinen Geburtstag nach- und in Saras Geburtstag reinfeiern. Als besonderes Highlight haben wir uns dafür ausgedacht, dass es neben den üblichen Party-Getränken auch heißen Kakao mit Amaretto geben soll. Zusätzlich zu der großzügig abgeschätzten Getränkemenge besorgen wir auch noch einen einfachen Schoko-Adventskalender für alle, den wir in der WG aufhängen wollen. Quasi als Geschenk von uns an die WG.
Der Hinweg zum Lidl war ja schon beschwerlich, weil wir nicht wirklich einen Plan hatten, wo wir nach dem Laden suchen sollten. Der Rückweg allerdings war um einiges unangenehmer. Mit prall gefülltem Wanderrucksack und zwei Tüten, vergleichbar mit diesen grotesk großen IKEA-Monstrositäten untem Arm, jeweils gut mit Glasflaschen gefüllt suchen wir uns den schnellsten Weg zur Minimetrò zurück in die Stadt. Als wir letztendlich die Minimetrò erreichen, bin ich nassgeschwitzt, obwohl ich nur ein T-Shirt trage während alle Welt in Filzmänteln rumfläuft und ich alle paar Hundert Meter pausiert habe. Anscheinend ist die Erkältung doch noch nicht ganz weg… Ursprünglich wollte ich heute schon wieder mit dem Bouldern anfangen, aber ich glaube, das kann ich mir getrost sparen. Also nichts wie nach Hause und die Beine hochlegen und auch den letzten Rest der Erkältung mit Zitronen-Ingwer-Tee wegtrinken.
Doch mit Füßehochlegen ist jetzt gerade erstmal nichts. Der Paketbote, der mir heute eigentlich mein Geburtstags-Paket von Zuhause hätte liefern sollen, hat stattdessen nur einen Schein mit sehr schwer lesbarer Schrift da gelassen, auf dem irgendetwas mit ritirare (abholen) und einer Via Angelloni steht. Eine kurze Recherche ergibt, dass dort das Paketabholzentrum der italienischen Post liegt. Also los, das wird bestimmt witzig. Die letzte Anweisung war, das Paket an meinen Vornamen und den Nachnamen meines Vermieters Francesco zu adressieren. Dann bekäme er das Paket und er wüsste, an wen er es weiterleiten müsste. Ich freue mich schon auf ein Gespräch mit dem Postbeamten, dem ich erklären muss, warum mein Nachname aus dem Perso nicht der auf dem Paket ist. Auf dem Weg zum Paketzentrum videotelefoniere ich noch mit meinem Bruder und lege mir dann einen Plan zurecht: Die Geburtstags-Masche. Das viel größere Problem ist es jedoch jetzt erst einmal dieses unsägliche Büro zu finden, von dem weder der Mann in der Tanke noch die Frau in der Versicherung im gleichen Haus wissen, wo es sein sollte. Erst ein Mann, der gerade in einer Werkstatt gerade an einem Auto schraubt, kann mir helfen: “Einmal quer durch das Tor durch (an dem ungefähr zehnmal fett vietato ingresso, Zutritt verboten, steht) und dann in die Halle reinbrüllen”. Aber er hat Recht: Kurz darauf habe ich das Paket in der Hand. Dass ich eigentlich nur hätte darauf verweisen müssen, dass meine Mutter den gleichen Nachnamen hat wie ich, ist mir natürlich erst danach eingefallen. Egal, hat trotzdem alles gut funktioniert. Der netter Mann von der Post hat mir jedenfalls noch nen schönen Geburtstag gewünscht.
In der Mensa erzähle ich den anderen von meiner Paket-Geschichte und verteile zum Nachtisch ein paar gute Öcher Saft-Printen aus dem Paket aus Deutschland. Doch viel Zeit zum Quatschen in der Mensa bleibt mir nicht. Verena, Hannah und ich wollen uns heute probeweise einen Tango-Kurs für Anfänger anschauen. Wir machen uns auf den Weg und kommen gerade noch rechtzeitig zu der Turnhalle, die ich bisher von außen immer für ein Schwimmbad gehalten habe. Der Kurs ist soweit gut und unterhaltsam, aber es mir auch nicht unbedingt wert die kommenden Montagabende zu blocken. Deswegen werde ich es wohl bei dem einen Probetermin beruhen lassen. Nach einem kurzen Spaziergang zurück nach Hause endet auch dieser schöne Geburtstag.
22 × 2 = ein Haufen Glitter-Konfetti
Ich wache mit abartigen Verspannungen in den Schultern vom gestrigen Flaschen-Schleppen auf. Nach der Uni fangen wir mit den Vorbereitungen für die Party an und hängen schon einmal den Adventskalender auf und versehen ihn mit einer formschönen Liste, wer wann ein Türchen öffnen darf und basteln ein Schild auf dem Il fight club sta aspettando il natale (Der Fight Club wartet auf Weihnachten) steht. Francesco hat schon angekündigt, dass er uns nicht ewig in der Küchen feiern lassen möchte, weswegen wir uns jetzt nochmal überlegen, wohin wir später mit allen umziehen könnten. Mich erreichen noch die letzten Glückwünsche und Anrufe von Freunden, die ich auf heute Nachmittag vertröstet hatte und los geht‘s wie so oft in den letzten Wochen zum Abendessen in die Mensa.
Gerade zusammen mit Flo zurück in der WG angekommen, erscheint auch schon der erste Gast: es ist ein komplett durchnässter Antoni, der als Regenschutz nur seinen nun mindestens doppelt so schweren Filzmantel dabei hat. In der Küche wechseln wir die Sprache sofort auf Italienisch, doch irgendwie fällt mir der Sprachenwechsel heute nicht so leicht wie sonst. Aber gut, das muss auch mal sein. Innerhalb der nächsten Stunde füllt sich die WG-Küche rasch mit knapp 20 Leuten, die jetzt auf Italienisch, Englisch, Französisch und Deutsch miteinander reden. Mit dabei sind neben unser WG und unserem deutschen Dunstkreis auch Federica, Cristina (die Mitbewohnerin von Sophie) und Giorgio sowie ein paar neue Gesichter, die als Anhang mitgenommen wurden – eine ganz gute Mischung also. Giorgio hat eine perugianische Spezialität mitgebracht: Einen Torcolo di San Costanzo, im Prinzip vergleichbar mit einem harten Christstollen ohne Puderzucker, dafür aber in Kranzform und mit ein wenig Anis. Nicht unbdingt etwas für jeden Tag, aber für den Moment auf jeden Fall ganz schmackhaft, insbesondere in der Kombination mit heißer Schokolade. Herbstlicher wird‘s nicht mehr, glaube ich.
Die Zeit vergeht wie im Fluge und schon bald ist es 12 Uhr und wir singen für Sara in allen anwesenden Sprachen und tragen Kerzen zum Auspusten und Geschenke zum Auspacken in die Küche. Von unserem deutschen Dunstkreis gibt es ein Geschenk für uns beide: Ein Krimidinner bei Johanna und Federica zuhause. Dazu gibt‘s noch eine gute Flasche Wein und eine selbstgebastelte Karte und für Sara eine von diesen grausamen Konfettikanonen. Keine Zehn Sekunden später ist alles und jeder in metallisch glänzendes Plastik-Glitter gebadet. Ich freue mich schon aufs Putzen. Aber egal, jetzt müssen wir erstmal gucken, wohin wir umziehen, Francesco macht Stress. Mit dem inneren Kreis ziehen wir weiter in die Villa Iceberg, wo wir noch bis tief in die Nacht verweilen, bis ich langsam realisiere, dass ich morgen um 9 in der Uni sitzen muss.
Ich will einfach nur hier sitzen
Der Morgen beginnt erwartungsgemäß schlecht und nach zwei Tassen schwarzem Tee bin ich zwar wach, aber dafür auch kein geringerer Zombie. Das ist dann wohl der Nachteil, an einer infinitesimal kleinen Fakultät zu studieren: Einfach mal so zuhause bleiben geht nicht. Doch auch die längste Vorlesung endet irgendwann und ich sehne mich schon wieder in mein Bett zurück, da schlägt der Prof vor, dass wir doch einfach noch einen Vortrag seines neuen Doktoranden anhören könnten. Er hätte da was Schönes zu seiner Masterarbeit zur Erneuerung der unteren Grenzen für die Masse eines W‘-Bosons vorbereitet. Dauert auch nur eine oretta, ein Stündchen, sagt er. Der Vortrag ist gut gemacht, zwei Stunden später sitze ich jedoch nach wie vor in der Uni und bereue es zutiefst die Feier nicht ins Wochenende verlegt zu haben. Aber egal – jetzt bin ich durch und morgen und übermorgen sind keine Vorlesungen, weil Francesco und Luca übers Wochenende zum GIPE (German Italian Physics Exchange, dem Deutsch-Italienischen Physik-Austausch) nach Dresden fliegen und die anderen Profs deswegen ihre Vorlesungen in die nächste Woche verschoben haben. Heißt: Ich wünsche den beiden noch eine schöne Reise nach Deutschland, sie sollen Miriam, einer befreundeten Dortmunderin, die auch da sein wird, liebe Grüße ausrichten und dann verziehe ich mich auch schon wieder zurück.
Doch zwischen mir und meinem Bett steht eine ungeputzte WG mit gigantischen Mengen Glitzer-Konfetti auf dem klebrigen Boden und Sara hat schon mit dem Putzen angefangen. Also bleibt mir nichts anderes Übrig als meine Pause noch weiter rauszuzögern und auf dem Zahlfleisch gehend die WG zu schrubben. Der Staubsauger ist übrigens kaputt – der bestmögliche Zeitpunkt dafür, wie ich finde. Irgendwann am frühen Abend schaffe ich es dann tatsächlich, mich für eine Minute hinzusetzen. Doch nun schreit Francesco uns auf dem Flur zusammen: „Verena, Sara, Carlo, Rémi, Anais, Manu, Long!“ Angestellt haben wir nichts, er ist sogar ganz zufrieden mit dem Putz-Ergebnis – er will uns nur die regole per l‘inverno (die Winterregeln) erklären: Jeden Tag eine halbe Stunde lüften und sonst alle Fenster und Türen verriegeln, die Heizungen hat er jetzt endlich angestellt und obwohl es in der Wohnung ziemlich zugig ist (ich wiederhole gerne: Energie-Effizienzklasse G!) wird es ein wenig wärmer – perfekte Bedingungen um bis morgen früh durchzuschlafen.
Ich bin dann mal wieder da
Nachdem ich den gestrigen Tag noch für die letzten Rückreise-Vorkehrungen, zum Einkaufen und Bouldern genutzt habe, geht es jetzt wieder zurück in die Heimat. Das Bouldern gestern lief erstaunlich gut dafür, dass ich zwei Wochen zwangspausiert hatte und nach einer langen Dehn-Session ist auch die Verspannung aus meinem Nacken verschwunden. Jetzt geht es erstmal mit dem Flixbus nach einem kurzen Umstieg in Bologna zurück nach Dortmund. Mit sechs Käse-Vollkorn-Doppelkniften, Frühstückskeksen und Studentenfutter als Proviant für die nächsten 24 Stunden geht er jetzt geradewegs zurück in den hohen, kalten Norden.
Kurz vorm Brenner (il Brennero) fängt es an zu schneien, sodass wir bei der knapp zweistündigen Passkontrolle an der deutschen Grenze komplett eingeschneit werden. Das ganze Prozedere zieht sich bis halb 2 nachts, weil es offensichtlich Verständigungsprobleme zwischen den Bundespolizei-Beamten, die nur Deutsch, ein klein wenig Englisch und drei Worte Italienisch sprechen (il passoporto, i documenti und uno momento, was technisch gesehen jedoch nicht mal Italienisch ist). Ich schalte mich ein, nachdem eine Italienerin, die auch etwas Deutsch spricht, offenbar die Fragen des Beamten nicht versteht und dann falsch für die Frau mit dem Kleinkind quer vor mir übersetzt, die offenbar einen Familiennachzug nach Deutschland plant. Der Polizist fragt mich, ob ich vielleicht stattdessen etwas dolmetschen könnte – ungern, aber ich glaube, da muss ich jetzt durch. Am Ende ist es gar nicht so schlimm und sowohl die BuPo als auch die Frau auf dem Sitz schräg vor mir sind sehr glücklich und wir können endlich weiter. „Reingehauen“ sagt der Polizist und wünscht noch eine gute Weiterreise, „jo, kein Ding“ antworte ich und bedanke mich. Verrückt: Das Dolmetschen wäre vor 10 Wochen absolut noch nicht drin gewesen. Es war jetzt keine komplizierte Angelegenheit, alles einfache Fragen, aber ein kleiner Erfolg ist es auf jeden Fall für mich.
Gerade befinde ich mich im Landeanflug auf Dortmund und habe noch etwas Zeit, die letzten 10 Wochen zu reflektieren: Ich kam ohne Wohnung in Perugia an, habe direkt zu Beginn eine nette Person kennengelernt, die mich rauf in die Stadt gefahren hat, weil ich noch keine Ahnung hatte, dass man auch mit der Minimetrò nach oben kommt. Ich habe eine wunderbare WG und tolle Freunde aus Italien, Deutschland und dem Rest von Europa gefunden, die ich inzwischen jeden Tag sehe und mit denen ich zum Trasimenischen See, zum Tiber, nach Assisi, nach Ancona, nach Spello und Spoleto, zum Monte Subasio und zum Monte Tezio und nach Rom gereist bin. Ich habe entdeckt, wie gut Rotwein, Trüffel, Kastanien, Feigen, Oliven, frische Nudeln – und deutsches Vollkornbrot – schmecken können und hab mit spaghetti cacio e pepe auch schon das erste Gericht, das ich ohne Probleme nachkochen kann. Ich habe meinen ersten Kaffee getrunken, das erste Mal getrampt, mich das erste Mal richtig auf eine Demo vorbereitet und viel Zeit zum Lesen und Diskutieren gefunden. Ich habe mich an einer fremden Uni eingelebt und verstehe inzwischen das Allermeiste des Uni-Alltags auf Italienisch und kann auch die ersten italienischen „Zungenschmelzer“ auswendig. Und: Ich habe gesehen, dass ich mich innerhalb von zwei Monaten an einem komplett anderen Ort in Europa einleben kann und mich heimisch fühlen kann. Was die restlichen Monate bringen werden, wird sich zeigen. Schlecht kann es aber nicht mehr werden, da bin ich mir sicher.