Mozart und der Schicksalsberg

Die Gruppe wächst

Der Sonntag verging wie im Fluge: Erst habe ich heute bis in die frühen Mittagsstunden geschlafen um irgendwie die Fülle der Erlebnisse der letzten beiden Tage zu verarbeiten und nach dem Sortieren der Fotos und Videos der letzten beiden Wochen und dem Verfassen eines weiteren Blogeintrags ist es nun bereits Abend. Hannah hatte mir gestern während der Rückfahrt noch angeboten, mir ihre Karte für das bis gegen Mitternacht stattfindende Konzert der perugianischen Rockband Fast Animals and Slow Kids zu verkaufen. Sie hatte sie gerade erst über Julius, der uns zuletzt noch italienische Flüche beigebracht hatte, ergattern können, war dann aber doch sehr geschafft vom Wochenende. Innerhalb kürzester Zeit informierte ich mich daher über die junge Band und überlegte, das Angebot anzunehmen. Am Ende lehnte ich jedoch wegen meiner eigenen Müdigkeit ab. Heute habe ich mir im Laufe des Tages die letzten Alben der Band angehört und zweifle, ob es wirklich die richtige Entscheidung war, abzulehnen: Einige der Lieder sind wirklich großartig und haben es direkt in meine Playlists geschafft. Nun bekomme ich von Hannah die Nachricht, dass das Konzert unglaublich gut und das Letzte der aktuellen Tour der Band war. Sie selbst hatte sich mit Kaffee doch noch ganz gut über Wasser halten können. Ich werde also schauen müssen, ob es bald in der Nähe noch ein Konzert der Band geben wird: Noch einmal möchte ich mir das nicht entgehen lassen!

Unsere Gruppe wächst: Bisher waren wir neun Gefährten, doch nun sind wir durch die Ankunft von Flo, dem besagtem Cusaner, der mir zu meiner Wohnung verhalf, zu den schrägen Zehn geworden. Gemeint ist weniger der Kegelclub aus dem Dortmunder Süden, sondern viel eher, dass wir laut Sara alle irgendeinen mehr oder weniger großen Tick haben. Na danke. Flo lernen wir jedenfalls (wo auch sonst?) auf den scalette kennen: Er ist erst gestern in Perugia angekommen, da er schon hervorragend Italienisch spricht es somit wenig Sinn für ihn ergeben hätte, noch einen Sprachkurs auf dem B1-Niveau zu machen. Wir verstehen uns auf Anhieb sehr gut und erweitern damit gerne unsere Gruppe um eine weitere Person. Mein ursprünglicher Wunsch, mich möglichst von allen Deutschen fernzuhalten ist damit offiziell gescheitert: Aber ehrlich gesagt bin ich aktuell noch nicht einmal traurig darum. Und das Italienischlernen klappt bisher auch so ganz gut und die Situation wird sowieso bestimmt noch einmal anders, wenn das Semester beginnt und mir nichts anderes übrig bleibt, als den ganzen Tag über Italienisch zu reden.

Giorgio und die deutsche Volksmusik

Inzwischen macht sich die Gewohnheit breit: Wir gehen zuerst in die Mensa, dann zum Sprachkurs und versuchen in den Pausen herausfinden, was man den Rest des Tages über tun könnte. Doch die heutige Abendplanung steht schon seit ein paar Tagen: Unser neuer Mitbewohner Rémi feiert heute Geburtstag und hat ein paar Freunde eingeladen. Wir bereiten als Geschenk etwas Dessert mit Obst, Joghurt und Baiser vor und besorgen noch eine Flasche von dem Rotwein, den Francesco uns empfohlen hat (ein Montefalco aus Foligno, nicht weit von Perugia). Unerwartet pünktlich kommen die Gäste, die Rémi eingeladen hat. Entgegen meiner Erwartung sind alle Gäste Italiener und uns schon bestens von den scalette bekannt: Federico, Lorenzo und Gianmarco. Die drei waren bisher auch immer abends auf der Piazza als wir dort waren und hatten sich uns auch schon als Mitglieder von ESN Perugia, der lokalen Gruppe des Erasmus Student Networks, vorgestellt.

Die drei sind super drauf und lassen sich nur gelegentlich von der Fußball-Übertragung (Torino gegen Lecce) vom gemeinsamen Kartenspiel ablenken, dass Rémi initiiert hat: La pyramide. Oder zu Deutsch: Busfahren. Long ist auch dabei und bietet uns chinesische Puffreiswaffeln mit kleinen schwarzen Algenstückchen an: Nicht ganz mein Fall, schmeckt aber auf jeden Fall nach Meer und besser als diese Standard-Reiswaffeln. Plötzlich klingelt es und ich lasse die an der Tür wartende Person rauf zu uns in den 5. Stock: Es ist Giorgio. Überraschung.

Nach kurzer Zeit hat Giorgio das Kommando über die Musik und es ertönt im Wechsel französischer Rap und – die Deutschen zucken bei jedem Lied zusammen – Beatrice Egli, Vicky Leandros, Helene Fischer und Andrea Berg. Long fühlt sich in die 90er zurückversetzt, Rémi und Anaïs müssen lachen und die Italiener scheinen Giorgios Macke anscheinend schon zu kennen: Er kann alle Texte, weil er offenbar während seines Auslandssemesters in Münster viel zu viel Zeit in wirklich seltsamen Etablissements verbracht hat. Das sieht offenbar auch die Dame aus dem vierten Stock so, die uns nun über Francesco mitteilen lässt, dass wir bitte schleunigst das Weite suchen sollen. Francesco schlägt uns vor, von der Küche in das aktuell noch leerstehende Zimmer bei unserem kleinen Balkon, der über dem Piazza Morlacchi liegt, umzuziehen, was wir natürlich sofort umsetzen.

Stunden später betritt Francesco dann irgendwann selbst die Bühne und sagt uns, dass wir doch bitte raus auf die Piazza gehen sollen, es würde ihm zu laut und er müsse morgen um halb 8 raus. Rémi hat jedoch andere Pläne: Tatsächlich gelingt es ihm Francesco zu überzeugen, mit uns zusammen zu feiern. Wow, damit hatte ich nicht gerechnet. Die Party endet damit, dass Francesco irgendwann mit den Worten ins Bett geht, dass wir den Raum bis morgen Mittag wieder aufräumen müssen, weil er einen potenziell neuen Mitbewohner zur Besichtigung erwartet. Dass Rémi sich dann noch aus eigenem Antrieb dazu bereit erklärt, morgen früh alleine aufzuräumen, macht ihn wohl auf jeden Fall fürs Erste zu unserem Partybeauftragten.

Der erste Kaffee

Mit erstaunlich klarem Kopf wache ich nach der gestrigen Geburtstagsparty auf, der Boden in der Küche ist zwar noch etwas klebrig, aber anscheinend hat Rémi im Nebenraum schon aufgeräumt: Ich bin mir ziemlich sicher, dass Anaïs und er ihren von Francesco aufgrund ihrer französischen Herkunft angeordneten Probemonat zur Miete gut überstehen werden. Wir treffen uns wieder vor der Mensa, wo auch alle mit der inzwischen verinnerlichten italienischer Pünktlichkeit (sprich, mit mindestens 10 Minuten Verspätung) eintreffen. Nach dem Essen lädt uns Lukas noch auf einen Kaffee ein. Hmmm. Eigentlich trinke ich ja keinen Kaffee, aber nachdem zuletzt schon mein Bruder von Freunden zum Kaffeetrinker bekehrt wurde und weder blass noch krank wurde, muss ich es wohl auch mal wagen. Ich sehe es als Vorbereitung auf die Arbeit am Lehrstuhl in Aachen und ergebe mich meinem Schicksal.

Die inzwischen doch durch die gestrige lange Nacht eintretende Müdigkeit wandelt sich durch den Caffè, also zu deutsch Espresso, in einen wohlig-warmen Aufmerksamkeitsschub für die nächste halbe Stunde. Das jedoch auf Kosten meiner anscheinend noch nicht ausreichend abgestumpften Geschmacksnerven: Warum hat mir keiner gesagt, dass das Zeug so sehr nach verbranntem Holz schmeckt? Von Flo und Lukas aufgeklärt, dass es sich angeblich um wohlschmeckende Röstaromen (Aha, das schmeckt da also so verkohlt) handelt, schwänze ich heute den Sprachkurs. Natürlich nicht aus dem akuten Bedürfnis in Ruhe einen Liter Wasser zu trinken sondern weil ich heute andere Pläne habe.

Mit Block und Stift bewaffnet begebe ich mich zum Physik-Department: Von außen nicht unbedingt so ein Prachtbau wie die Università per Stranieri sondern eher eine Reminiszenz an das Dortmunder und Aachener Physikzentrum (die angeblich vom gleichen Architekten geplant wurden und sich deshalb sehr ähneln), dafür aber direkt hinter der Mensa. Im Hörsaal A, vor dem sich historische Ausstellungsstücke und ein Nachbau eines Teils des Virgo-Interferometers zur Beobachtung von Gravitationswellen befinden, wird gleich eine Orientierungsveranstaltung für Schülerinnen und Schüler stattfinden, die sich für ein Physikstudium in Perugia interessieren. Das trifft zwar nicht mehr so ganz auf mich zu, klingt aber auf jeden Fall doch nach einer ganz hilfreichen Veranstaltung für meine aktuelle Situation.

Vor dem Hörsaal sammeln sich knapp 50 verunsicherte Studieninteressierte, die sich nicht trauen den Hörsaal zu betreten. Ich gehe vorweg und suche mir einen Platz in der dritten Reihe des Hörsaals, direkt gefolgt von einigen anderen, die nun anscheinend genug Mut gefasst haben, mir zu folgen. Kurz darauf betritt eine Professorin den Raum und beginnt mit einer mir gut vertrauten, kurzen Präsentation, warum man Physik studieren sollte und was man dafür mitbringen sollte (Interesse an der Sache, eine gewisse Frustrationstoleranz und die Bereitschaft, Mathe zu lernen). Soweit so gut. Dann betreten mehrere Physikstudenten (tatsächlich alles Typen, obwohl das Publikum überraschenderweise überwiegend weiblich ist) das Podest und berichten über die Angebote der Fachschaft, Altklausuren und ein Programm für den Deutsch-Italienischen Austausch von Physik-Studierenden, genannt GIPE. Das klingt ganz cool – ich werde mir dazu nochmal ein paar Informationen besorgen. Es folgen noch Laborführungen, die ich natürlich auch noch gerne mitnehme um noch schnell ein paar Vokabeln aufzuschnappen.

Naja, was heißt schon schnell? Die Führung durchs Laserlabor ging zumindest ganz schnell. Es hat sich interessanterweise auch nicht wirklich einer darum geschert, den Laser vorher abzuschalten oder uns Schutzbrillen aufzusetzen. Eigenverantwortliches Nicht-ins-Licht-Gucken wird in Italien wohl groß geschrieben. Die darauffolgende Führung durch die Reinraum-Labore war da schon aufwendiger, schließlich mussten alle erst einmal in formschöne Overalls gesteckt werde, mit hübschen Mützchen bzw. Haarnetzen und diesen Schuh-Überziehern ausgestattet werden und dann durch eine Luft-Schleuse befördert werden, was etwas gedauert hatte. Und nochmal das gleiche Spiel auf dem Weg raus. Was dann folgte, war noch eine ganz witzige aber mindestens einstündige Präsentation eines Rasterelektronenmikroskops, bei dem der das Gerät präsentierende Dozent nicht müde wurde uns darauf hinzuweisen, dass es eine Auflösung von etwa einem Nanometer hätte. Er saß. Wir standen vor der Kiste. Die Bilder von Makrophagen, Neuronen, Pollen und einem Wespen-Kopf und den darauf sitzenden Facettenaugen waren aber tatsächlich ziemlich cool. Das Beste an dem Tag war jedoch ein Gespräch mit den Fachschafts-Studenten auf dem Weg zwischen zwei Laboren: Mein von mir mit den wirklich ungenügenden Informationen der Fakultäts-Internetseite erstellter Stundenplan wurde von ihnen für gut befunden und abgesegnet. Vermutlich werde ich wohl auch mit einem von ihnen bald in einer der Veranstaltungen sitzen, für die jeweils wohl weniger als zehn Studierende erwartet werden. Bezüglich einer Überlappung einer Quantenfeldtheorie- und einer Gravitationswellen-Vorlesung sollte ich einfach den Dozenten schreiben. Eventuell wäre es sogar noch möglich, eine der Veranstaltungen zu verschieben. Das bin ich nicht wirklich aus Deutschland gewöhnt. Noch viel besser als diese Nachrichten war jedoch, dass sich die Studis mit mir komplett auf Italienisch unterhalten haben und nicht sofort den Drang hatten ins Englische zu wechseln. Yippie-Ya-Yeah.

Ich kehre zurück zur Università per Stranieri um die anderen, die gerade aus dem Unterricht kommen, vor dem Uni-Gebäude abzufangen, ihnen zu berichten und den Abend zu planen. Denn wie heißt es so schön? Nach der Uni ist vor der Uni. Meine Mitbewohnerin Verena hat heute morgen noch Tiramisu vorbereitet und schlägt vor, dieses mit zu einer Kirche zu nehmen, die etwas höher und außerhalb des Stadtzentrum gelegen sein soll, um dort den Sonnenuntergang zu beobachten. Cooler Plan! Ich gehe noch schnell nach Hause um meine Kamera zu holen und mache mich dann auf dem Weg zu der Kirche. Wie wir feststellten, handelte es sich jedoch nicht wirklich um eine Kirche. Also nicht nur. Man könnte es mehr als Kloster beschreiben, was uns allerdings nicht davon abhält, mit einem Blech Tiramisu unterm Arm darin den Ort mit dem besten Blick auf das historische Stadtzentrum zu suchen – und letztendlich auch zu finden. Die Sonne ist schon fast untergegangen und taucht die Steinmauern der Stadt in Goldgelb, dass sich schnell über Rot in Schwärze verwandelt. Das Tiramisu dazu schmeckt hervorragend. Mit zunehmender Dunkelheit fühlen wir uns jedoch immer weniger willkommen im Garten des Klosters und machen uns zurück auf den Weg in die Stadt. Ein super Tag.

Mozart und der Schicksalsberg

Der Tag beginnt früh und ich besorge mir in einer Buchhandlung ein kleines Vokabelheft. In den letzten Tagen ist mir aufgefallen, dass ich immer mal wieder Vokabeln nachgeschlagen hatte und diese dann doch häufiger benötigte als nur ein, zwei Mal. Es wurde also höchste Zeit, mir mal so ein Ding zuzulegen. Während des gewohnt langweiligen Kurses fülle ich es mit allerhand Begriffen, unter anderem so wichtigen Begriffen wie lo scippo (der Handtaschenraubüberfall durch Entreißen und Wegrennen), il bagnino (der Bademeister), le penne (nicht nur eine Nudelsorte, sondern auch das Gefieder eines Vogels) sowie il pupazzo di neve (der Schneemann). Braucht man täglich. Gemeinsam mit allen anderen Erasmus-Studierenden verlassen wir eine Stunde vor Ende des Kurses die Uni um zu einem von ESN vorbereiteten Informationsabend zu gehen.

Als wir den Hörsaal betreten, in dem die Veranstaltung stattfinden wird, ist dieser schon bestimmt zur Hälfte mit anderen Erasmus-Studierenden gefüllt und herrlich stickig. In den folgenden 10 Minuten verwandelt sich der Raum dann mit zunehmender Füllung in einer finnische Sauna. Netterweise wurde als Erfrischung für alle eine Dose Red Bull am jeweiligen Platz vorbereitet. Ne danke. Jetzt ist es nicht nur warm und schwül im Raum, nein, es mufft auch noch nach Energydrink. Suuuper. Die Veranstaltung ist weder informativ noch hilfreich und ich warte aufgrund der bald unmenschlich werdenden Hitze nur noch darauf, dass zwei Hobbits in den Raum rennen und einen Ring in die Feuer des Schicksalsberges hereinwerfen. Irgendwann ist auch dieser Schrecken vorbei, wir besorgen uns noch Ausweise von ESN, die benötigt werden um an den für die nächsten Monate angekündigten Veranstaltungen und Tagesausflügen teilnehmen zu können. Wir entschließen uns dazu, noch eben in die Mensa zu gehen, die auch abends zwischen 7 und 9 geöffnet ist, und zu Abend zu essen. Beim Essen schließt sich eine Gruppe von uns zusammen, um ein in Kürze stattfindendes kostenloses, klassisches Konzert in einer Kirche im Süden der Stadt zu besuchen. Ich bin ebenfalls dabei und wir verlassen fluchtartig die Mensa als uns auffällt, dass allein der Fußmarsch bis dorthin eine halbe Stunde dauert, was genau der Zeit bis zum Beginn des Konzerts entspricht.

Dort angekommen, werden wir zunächst von einer langen Menschenschlange vor dem Eingang der Basilica San Pietro erwartet. Offensichtlich hat der Veranstalter der Konzertreihe Sagra Musicale Umbra 2019 wohl nicht mit so vielen Besuchern gerechnet und es werden nur noch einige wenige Leute eingelassen. Als fast schon Letzte dürfen wir noch in die Kirche in die letzte Reihe um uns auf eine Gebetsbank hinzusetzen. Nach uns, kommen nur noch zwei, drei Leute rein und dann wird schon die Tür verschlossen. Puh. Das war knapp. Auf dem Programm stehen Aaron Copland, Mozart und Vivaldi. Eigentlich nicht unbedingt meine Welt in der klassischen Orchestermusik, aber dafür gratis und es wurde ein großer Chor für das letzte Stück angekündigt, was allein schon Grund genug sein sollte. Dass die Kirche an sich schon so beeindruckend ist, hatten wir nicht geahnt. Die obere Wandfläche des Mittelschiffs ist kein Fenstergeschoss und auch nicht von den üblichen Fresken überzogen sondern von wandfüllenden Ölgemälden. Ich kann schon verstehen, warum die normalerweise 3€ Eintritt hierfür nehmen.

Das Konzert beginnt mit „Quiet city“. Ziemlich modern (1940) und damit nicht gerade mein Steckenpferd. Aber ganz gut zum in der Kirche sitzen und Gemälde und Verzierungen anstarren. Danach Mozart mit seiner großen g-Moll Sinfonie mit der Nummer 40. Zugegebenermaßen habe ich beim Lesen des Programms nicht erkannt, dass die Sinfonie Nummer 40 quasi die eine Sinfonie von Mozart ist, die man am Namen erkennen sollte. Aber umso besser war dann meine Laune als das Orchester die ersten paar Töne gespielt hatte. Ich lasse mich also darauf ein und habe tatsächlich das erste Mal das Gefühl, dass ich mich beim Hören der einzelnen Sätze noch ans Thema vom Beginn des Satzes erinnern kann. Mein Musik-Oberstufenwissen kommt aus der letzten Ecke meines Hirns und wirft mit solchen schönen Begriffen wie „Exposition“, „Reprise“ und „Seufzermotiv“ und glaubt sogar, wieder etwas damit anfangen zu können. Nett. Eigentlich wäre das schon genug für einen Abend, aber jetzt gibt es erst einmal ein Pause. Nach einem kurzen Gespräch über Musik und Religion auf der hintersten Bank der Kirche informieren wir uns noch schnell über das „Gloria“ von Vivaldi, das gleich kommen wird. 12 Sätze: Oh, Gott.

Netterweise sind die einzelnen Sätze schön kurz und der Chor aus Assisi lockert das Ganze auch nochmal auf. Während der letzten drei Sätze (ich zähle fleißig mit, denn meine Aufmerksamkeitsspanne hält nach wie vor nicht mehr als eine Sinfonie am Abend aus) fängt es auf einmal draußen an zu blitzen. Als wir die Kirche nach einer kurzen Zugabe des Chors verlassen, strömt uns schon kühle Luft entgegen und es dauert auch nicht lange, bis es dann endlich anfängt wie zuletzt im Freiluftkino zu schütten. Wir laufen sogar genau den gleichen Weg wie vom Kino zurück. Als ich wieder zuhause ankomme, bin ich wieder komplett durchnässt und dennoch zufrieden. Wie schon gesagt: Könnte schlimmer sein.

Non c‘è diritto di Kohlebaggerfahren

Ich habe mich für nach dem Sprachkurs mit Long zum Bouldern verabredet. Leider läuft es heute nicht ganz so gut beim Sport, da erst das Kindertraining stattfindet, damit die Halle belegt ist und ich nachdem endlich die kleine Halle wieder einigermaßen leer ist schon ziemlich durch bin. Demzufolge bin ich eigentlich ganz glücklich, als wir schon gegen Viertel vor 9 die Halle verlassen und die Minimetrò zurück nehmen. Dass in der Halle im Hintergrund die letzten beiden Alben meiner ehemaligen Lieblingsband Muse gespielt wurden, hat das Training in jedem Falle aber deutlich aufgewertet. Gerade in der WG angekommen, frage ich, ob bei den anderen heute noch irgendetwas laufen würde. Antwort: Nicht wirklich, aber ich könnte trotzdem rumkommen, wenn ich wollte. Klingt doch super. Noch besser allerdings ist, dass Lukas schon dabei ist, Nudeln für mich zu kochen als ich ankomme. Die Italiener, die in der Küche des Wohnheims sitzen, dass ich nach der vermietenden Wohnungsgesellschaft kurzerhand Villa Iceberg getauft habe, bieten mir noch etwas Pecorino an, was ich natürlich nicht ablehnen kann.

Noch dabei sind Flo und Hannah und sie beratschlagen sich gerade, was man eigentlich für Plakate für den nahenden Klimastreik basteln könnte, der in Italien aus irgendwelchen Gründen nicht morgen am 20. September sondern am 27. September stattfinden wird. Ich schließe mich der Ideenfindung an und letztendlich basteln wir vier Papp-Plakate. Eins mit einem Zeitstrahl, auf dem ein Dino und ein trauriger Strich-Mensch sowie die zeitliche Länge der jeweiligen Ära, in der die beiden Arten voraussichtlich existierten, abgebildet sind sowie drei Plakate mit Text: Non c‘è diritto di Kohlebaggerfahren (Es gibt kein Recht auf Kohlebaggerfahren), I can‘t believe we‘re marching for facts (Ich kann nicht glauben, dass wir für Fakten demonstrieren) und Salvate il Clima! I baci stanno sciogliendo. (Rettet das Klima! Die Baci sind am schmelzen.). Zur Erklärung: Baci (Küsse) sind eine besondere Form perugianischer Pralinen. Wir kommen von Höcksken auf Stöcksken und diskutieren bis um 3 darüber, wie sehr man die Gesellschaft zum Klimaschutz zwingen kann, darf und sollte, die Antifa und effektiven Altruismus. Gegen halb 4 liege ich dann endlich in meinem Bett und versuche nach der Debatte die Augen zuzubekommen. Schwierig. Gretas I want you to panic! hat zumindest bei mir echt eingeschlagen wie eine Bombe. Ich bin gespannt, wie viele Leute morgen weltweit auf den Straßen stehen werden. Wir werden jedenfalls morgen früh um 9 auf der Piazza mit unseren Plakaten stehen und unsere Wanderung nach Assisi nachholen. Höchste Zeit also, etwas Schlaf zu bekommen.

Eine Wanderung durchs Schlaraffenland namens Umbrien

Es ist 9 Uhr und ich stehe komplett übermüdet auf der Piazza. Flo und Lukas kommen mit ähnlich verschlafenen Mienen angelaufen, dafür aber mit den Plakaten in der Hand, die wir gestern noch gebastelt hatten um heute ein paar Fotos zur Einstimmung und zum Gruß befreundeter, deutscher FFF-Gruppen zu schicken. Wir können einen Briten überreden die Fotos von uns zu machen und wünschen ihm (als Scherz, versteht sich) einen schönen letzten Aufenthalt außerhalb des Vereinigten Königreichs, was dieser tatsächlich ganz amüsant findet. Unser Projekt, die Wanderung nach Assisi, stellt sich als ähnlicher Reinfall wie die britischen Debatten dar: Nach dem Umkehren auf halber Strecke vor zwei Wochen, erscheint Hannah wegen eines nicht funktionierenden Weckers und blockierten Badezimmers nicht, Flo traut sich den Aufbruch aufgrund von akuten Verspannungen im Hals und Rücken nicht zu und Lukas muss schon zu einer Vorlesung, die für ihn heute beginnen soll. Na super. Dann halt nicht. Wir beschließen, nach Lukas Vorlesung noch einen Versuch zu wagen, auch wenn es dann schon wirklich spät werden könnte, bis wir in Assisi ankommen würden. Aber das soll mir recht sein, solange ich irgendwann nochmal ans Wandern in Umbrien komme, solange das Wetter es mitmacht.

Gegen Mittag treffen wir uns zur Stärkung vor der Wanderung in der Mensa, Flo hat es inzwischen sogar geschafft, irgendwie seinen Rücken zu beruhigen, doch Hannah ist immer noch nicht in Sichtweite. Wir holen sie nach dem Essen bei sich zuhause ab und bekommen glatt noch etwas Nachtisch von Ihrem Mitbewohner Matteo angeboten: Auf dem Tisch steht ein großer Teller mit nett angerichteten Mini-Croissants, gefüllt mit Nutella, Marmelade und Milchcreme. Da greift man doch gerne zu! Mit einem Croissant für jeden, Brötchen, Wasser, Scamorza sowie ein paar Taralli (kleine runde Weizenbrotringe mit Rosmarin, Peperoncino oder Fenchel) brechen wir dann gegen 2 Uhr endlich auf. Der Weg ist mit knapp 5 Stunden von Google angegeben. Heißt: Wir sollten den letzten Zug von Assisi nach Perugia gegen 9 auf jeden Fall gut erreichen können.

Wir laufen! Endlich! Den Weg bis nach Ponte San Giovanni, benannt nach der dortigen Holzbrücke über den Tiber, kennen wir noch auswendig – genauso wie auch die Positionen der Sträucher und Bäume die uns schon das letzte Mal gut versorgt hatten. Heute finden wir sogar noch mehr: Trauben, Feigen, Granatäpfel, Sanddorn, Salbei, Rosmarin und Minze versüßen uns den Weg. Die am Wegesrand wachsenden Maiskolben, Tomaten und Kürbisse haben wir natürlich nicht mitgenommen. Der Weg geht vorbei an Bauernhöfen und durch Wälder, aber genauso auch durch Städte und über Landstraßen. Vor allem Letzteres wird nun allerdings sehr unangenehm. Gegen 6 Uhr taucht die untergehende Sonne in unserem Rücken alles in einen wunderbaren rötlichen Schimmer, der jedoch auch bedeutet, dass es innerhalb der nächsten Stunde stockfinster und kühl wird. Was im Hellen noch einigermaßen in Ordnung und mir bestens vom Jakobsweg in Nordspanien kurz vor Santander bekannt ist, wird nach Einbruch der Dunkelheit wirklich zum gefährlichen Unterfangen. Folglich nehmen wir die Beine in die Hand, beschließen nicht mehr von der Wildnis zu naschen und erreichen somit gerade rechtzeitig der Stadt ohne überfahren worden zu sein. Nur noch schnell ein paar Treppen rauf, rauf, rauf und wir befinden uns direkt vor den Stadttoren. Als wir das Stadttor durchschreiten und uns auf einem kleinen Plateau über das hinter uns liegende Land umdrehen, ist die Nacht vollständig eingebrochen. Wir machen uns noch schnell auf zu einem Imbiss, der allerdings leider kein Essen mehr verkauft, uns aber unsere Flaschen auffüllen lässt und treten dann mit einem Bus den Weg zum Bahnhof und zurück nach Perugia an. Für eine Besichtigung der Stadt reicht die Zeit heute jedenfalls nicht mehr. Das werden wir dann wohl auch nochmal nachholen müssen.

Nach einer knappen Dreiviertelstunde Warten in der Kälte der Nacht kommt der Zug. Hungrig von den 22 km Fußweg kommen wir in Perugia an und bewegen uns auf direktem Weg zum „il bacio“, dem Restaurant, in dem wir direkt nach unserem Einzug essen waren und durch Francesco sogar noch Rabatt bekamen. Ich glaube inzwischen, dass es dort die beste Pizza der Stadt gibt, sogar für humane Preise. Für das nächste Mal müssen wir uns jedoch eine bessere Taktik für Rabatt überlegen: Sich einfach besonders auffällig und laut über Francesco zu unterhalten hat offenbar nicht geholfen. Unsere Wanderung endet angemessen kulinarisch bei Wein und Bruschetta.

Zurück zuhause angekommen sehe ich die Bilder des weltweiten Klimastreiks, die mir heute zugeschickt wurden und ich freue mich über die gigantische Beteiligung der deutschen Bevölkerung an den Protesten. Nächste Woche sind wir dran! Desweiteren wird Anaïs nächste Woche Geburtstag feiern. Mal schauen, ob Francesco auch wieder dabei sein wird.

Geschrieben am 22. September 2019