Von Mönchen und Zungenbrechern

Die Menschenwürde und die Sprache der Vorlesungen sind unantastbar

Die Woche beginnt entspannt: Nach dem Zeitungsfrühstück habe ich noch etwas Zeit, bevor heute endlich meine Quantenfeldtheorie-Vorlesung (kurz: QFT) beginnen soll. Beeindruckt von einem Zeit-Artikel, der die Abschaffung des Konzepts der Menschenwürde fordert, lese ich mich in die Grundlagen des Utilitarismus sowie das Werk von Jeremy Bentham und Peter Singer ein. Was schon zu Abi-Zeiten im Philosophie-Unterricht reizvoll schien, erscheint mir jetzt sogar sinnvoll. Ob man deswegen gleich die Menschenwürde als Grundlage für ethisch korrektes Handeln aus den Gesetzesbüchern streichen sollte, muss ich mir aber nochmal genauer überlegen. Jetzt geht es jedenfalls erstmal zur Uni.

Wir sitzen zu sechst im Hörsaal als unsere überraschend junge Dozentin den Raum betritt und ihren Blick ungläubig durch die Reihen streifen lässt. Ganze sechs Studierende! Die anderen kennt sie offenbar alle aus dem letzten Semester und spricht mich ziemlich sofort an, wie ich denn hieße und woher ich käme. Etwas verwundert über das direkte Gespräch vor der Vorlesung berichte ich ihr davon, dass ich Aachener Erasmus-Student bin, worauf sie sofort anbietet die Vorlesung auf Englisch zu halten. Ich halte mich erst einmal zurück und sage, dass ich es gerne auf Italienisch testen würde, was meine Kommilitonen sichtlich entspannt, die anscheinend alle noch nie eine Vorlesung auf Englisch hatten und es offenbar nicht gewohnt sind Englisch zu sprechen. Es wird sich zeigen, ob das eine gute Entscheidung von mir war.

Die Vorlesung ist hervorragend. Die Dozentin beginnt sofort mit der Einführung vom Pfadintegral-Formalismus, der in meinem QFT-Kurs in Aachen erst ganz am Ende des Semesters eingeführt wurde und den ich deswegen auch nur noch eher schlecht als gut in Erinnerung habe. Nach zwei Stunden Auffrischung meiner eingerosteten Kenntnisse zu Funktional-Methoden zur Berechnung von Übergangswahrscheinlichkeiten in der Quantenmechanik spreche ich noch kurz mit unserer Dozentin: Ich habe zwar nicht alle Details ihrer Erklärungen verstanden, aber solange ihr Tafelanschrieb so bleibt wie er ist, kann sie die Vorlesung ruhig auf Italienisch halten. Das ist wohl das Beste für alle. Schließlich bietet sie mir noch an, bei Missverständnissen jederzeit zu ihr ins Büro zu kommen. Sehr cool!

Abends in der Mensa treffe ich mich mit Sara, Lukas und Flo, die gerade aus Rom wieder angekommen sind und mir unter anderem vom 15 Jahre alten Barolo berichten: Der Wein war tatsächlich noch genießbar, wenn auch ein bisschen sauer. Anscheinend sind die drei soweit auch noch ganz fit. Hannah ist inzwischen auch gut in Neapel angekommen.

„Schwarzschild“, „Bremsstrahlung“ und weitere deutsche Zungenbrecher

Eine unerfreuliche Überraschung am Morgen: Ich bekomme von Noemi, einer meiner Kommilitoninnen, die Nachricht, dass unsere QFT-Vorlesung heute zwei Stunden vorverlegt wurde, weil unsere Dozentin einen Terminkonflikt hatte. Das wäre natürlich kein Problem, wenn ich nicht gleichzeitig eine andere Vorlesung hätte, die heute beginnen wird: Complementi di fisica delle particelleErgänzungen der Teilchenphysik also. Der Titel der Vorlesung ist witzig, weil es sich nicht nur um eine zusätzliche Lehrveranstaltung zur Teilchenphysik handelt sondern das Thema der Vorlesung Ergänzungen des Standardmodells der Teilchenphysik, also gerade complementi sind. Die QFT-Vorlesung werde ich dann jedenfalls später nachholen müssen.

Noch während ich mit Lisa, Francesca und Lorenza im Hörsaal auf unseren Prof Livio warte, bekomme ich von unserer QFT-Dozentin schon eine Mail, in der sie sich bei mir entschuldigt und mir anbietet, nach der Vorlesung eben bei ihr vorbei zu schauen. Dann würde sie mir noch schnell erklären, was heute in ihrer Vorlesung passiert ist. Wow, mir gefällt das Studieren an einer kleinen Fakultät wirklich besser als ich es für möglich gehalten hätte.

Livio betritt den Hörsaal und quatscht erstmal eine Runde mit uns und bietet uns dann an, die Vorlesung in den Videokonferenzraum seiner Arbeitsgruppe zu verschieben, was wir natürlich gerne annehmen. Die Complementi-Vorlesung beginnt und Livio stellt uns vier das Programm für das Semester vor: Extradimensionen, Supersymmetrie und GUTs, also große, vereinheitlichte Theorien, womit wir heute schon anfangen werden. Wir werden immer im Wechsel ein paar Artikel und Reviews zugeordnet bekommen, die wir dann lesen sollen um in der jeweils kommenden Woche dazu einen Vortrag zu halten. Uiuiui, Vorträge zu Physik jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik auf Italienisch zu halten traue ich mir nun wirklich nicht zu. Italienische Vorlesungen dazu zu verstehen, ist das ein. Vorträge darüber zu halten, etwas ganz anderes. Ich kläre recht schnell, dass ich meine Vorträge auf Englisch halten werden kann, was auch meine Kommilitoninnen freut, da sie so eine Möglichkeit haben, mal etwas auf Englisch zu sprechen, was normalerweise in den rein-italienischen Vorlesungen nicht der Fall ist. Dass Livio die Vorlesungen trotzdem auf Italienisch halten kann und ich mich sogar darüber freue, freut auch ihn. Eine Win-win-win-win-Situation sozusagen.

Nach zwei Stunden Einführung in GUTs, also quasi eine Vorstufe zur TOE (Theory of everything), der „Weltformel“, wenn man so will, dampft mir der Kopf. Aber ich habe ja noch die Einladung von Marta, der QFT-Dozentin. Ich stelle also meine Sachen in den „Theoretiker-Raum“, für den anscheinend nur meine Kommilitonen mit einem Faible für theoretische Physik einen Schlüssel haben dürfen und lasse mir von den anderen noch eine buona lezione (eine gute Vorlesung) wünschen. Als ich bei Marta im Büro ankomme, ist sie jedoch sichtlich gestresst und packt gerade ihre Sachen zusammen. Sie erklärt mir, dass ihre Tochter offenbar krank ist und sie schnell zu ihr müsste, versichert mir aber, dass ich ein andermal gerne zu ihr kommen könnte. Ich verspreche ihr, dass ich mir erst einmal von Noemi ihre Mitschrift anschauen werde und dann gegebenenfalls noch einmal bei ihr vorbei kommen würde.

Zurück im Theoretiker-Raum erzähle ich den anderen davon und beginne damit, ihre Mitschriften abzuschreiben. Durch das Auftauchen der LSZ-Reduktionsformel, wobei LSZ für deren Entdecker Lehmann, Symanzik und Zimmermann steht, kommen wir auf deutsche Namen und Begriffe zu sprechen, die häufig in der Physik vorkommen, aber für alle, die dem Deutschen nicht mächtig sind, eher Zungenbrecher als alles andere sind. Wir machen ein kleines Spiel daraus und ich muss mich manchmal wirklich beherrschen nicht laut loszulachen. Aber es stimmt schon: „Schwarzschild“ ist wirklich kein Name, der sich irgendwie italienisieren ließe: „sciuvarzzscild“ trifft es eben doch nicht ganz. „Heisenberg“ geht dafür jetzt schon ganz flüssig.

Die italienische Zungenbrecher-Rache: Von Ziegen, Tigern und Erzbischöfen

Meinem Kommilitonen Francesco blieb die kleine Deutsch-Stunde von gestern offenbar in guter Erinnerung: Beim Mensa-Essen mit Lorenzo fordert er mich zuerst mit italienischen Namen heraus, die ich jedoch alle mehr oder weniger fehlerfrei aussprechen kann. Mit den Zungenbrechern bekommt er mich dann aber doch: Tre tigri contro tre tigri (Drei Tiger gegen drei Tiger), Li vuoi quei kiwi? E se non vuoi quei kiwi che kiwi vuoi? (Willst du diese Kiwis? Und wenn du diese Kiwis nicht willst, welche Kiwis willst du dann?) und Sopra la panca la capra campa, sotto la panca la capra crepa (Auf der Bank lebt die Ziege, unter der Bank stirbt die Ziege), gingen noch halbwegs gut. Bei dem folgenden „Zungenschmelzer“ (scioglilingua) musste ich mich dann jedoch endgültig geschlagen geben:

Se l’arcivescovo di Costantinopoli si disarcivescoviscostantinopolizzasse, ti disarcivescoviscostantinopolizzeresti tu come si è disarcivescoviscostantinopolizzato l’arcivescovo di Costantinopoli? (Wenn der Erzbischof von Konstantinopel sein Amt als Erzbischof von Konstantinopel niederlegte, würdest du das Amt als Erzischof von Konstantinopel niederlegen wie der Erzbischof von Konstantinopel das Amt als Erzbischof von Konstantinopel niedergelegt hat?)

Uff… Aber ich habe ja noch ein paar Monate um das zu lernen. Auf jeden Fall ist das eine gute Antwort, wenn man mal auf irgendeiner Party gefragt werden sollte, wie gut man denn Italienisch spricht. Francesco wird es jedenfalls garantiert eine Freude sein, mich solange zu korrigieren, bis es tatsächlich richtig ist.

Marta möchte mit uns eine settimana superintensivo machen, also eine besonders Quantenfeldtheorie-intensive Woche, und hat deswegen beschlossen, diese Woche einfach jeden Tag eine Vorlesung zu halten. Dafür gibt‘s dann bald einfach zwei QFT-vorlesungsfreie Wochen. Gefällt mir, das Konzept. Nach der Vorlesung heute habe ich noch einen Gesprächstermin mit Helios vereinbart um mit ihm über die beiden Artikel zu den verschiedenen Massen zu reden.

Helios kommt die italienischen zehn Minuten zu spät und bietet mir einen Platz vor der Kreidetafel in seinem Büro an. Letzte Woche hatte ich beim Lesen der Artikel den Eindruck bekommen, dass die Messergebnisse „durch langes Starren auf die Allgemeine Relativitätstheorie“ eigentlich klar sein sollten, was ich ihm nun versuche weniger direkt aber mit der gleichen Intention zu sagen. Er lacht, weil sein Plan offenbar aufgegangen ist. Dass er mir die beiden Paper in die Hand gedrückt hat, hatte einen rein pädagogischen Sinn: Er wollte mich nur dazu bringen, dass ich nicht zu sehr aus dem Elfenbeinturm der Theorie auf die Messergebnisse herabschauen sollte. Die Äquivalenz von aktiver, passiver und träger Masse ist zwar die Grundannahme der Relativitätstheorie, deren Vorhersagen letztendlich jedem Test standgehalten haben; das heißt jedoch nicht, dass diese Grundannahmen korrekt sein müssen. Er sagt mir relativ deutlich: „Physik ist keine Religion. Gott sei Dank. Wir können unsere Annahmen tatsächlich überprüfen und es wäre dumm, das nicht zu tun.“ Damit hat er natürlich Recht.

Damit war dann die Diskussion über Gravitation eröffnet: Ich frage, was es denn dann hieße, wenn die drei verschiedenen Massenarten nicht identisch wären, was er nicht beantworten konnte. Dafür sollte ich mich an seine Freunde aus der Theorie und einen guten Kosmologen wenden. Ich werde darauf zurückkommen. Auch für Detailfragen zu einem noch nicht besonders alten Artikel zu elektrisch geladenen, rotierenden schwarzen Löchern, bei denen zwischen zwei der Massenarten gerade ein Faktor zwei steht, sollte ich lieber mal nebenan klopfen. Wir gehen über zu Gravitationswellen, mit denen er sich deutlich besser auskennt. Er berichtet stolz, dass er gerade dafür gesorgt hat, dass das neue japanische Graviationswellenteleskop Kagra mit dem von ihm betreuten Virgo-Teleskop kooperieren wird und redet ziemlich geheimniskrämerisch um den heißen Brei herum: Die ersten Kagra-Daten werden von der Wissenschafts-Gemeinschaft Ende 2019 erwartet und allem Anschein nach gab es eine größere Entdeckung. Auch bei meiner Frage nach der maximalen Distanz von „sichtbaren“ Quellen von Gravitationswellen wird er ein wenig unruhig. Er würde gerne mehr erzählen, darf es aber nicht. Hui, da scheint ja wirklich etwas Bedeutsames gesehen worden zu sein.

Wir gehen die Theorie der Detektion der Gravitationswellen durch und sprechen die verschiedenen Arten von Störsignalen durch, die der Entdeckung der durch Gravitationswellen ausgelösten Schwingungen im Bereich von Bruchteilen eines Atomdurchmessers im Wege stehen: Für die Beobachtbarkeit des statistischen Gravitationswellen-Untergrunds durch Phasenübergänge Dunkler Materie im frühen Universum, den ich ab April in meiner Masterarbeit theoretisch beschreiben und vorhersagen möchte, sieht er jedoch in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren eher schwarz: Durch größere Teleskope, „gequetschtes Licht“ und eine bessere Aufhängung der Spiegel werden noch vielleicht zehn oder hundertmal genauere Messungen möglich sein. Ob das wirklich schon reicht, um einen stochastischen Untergrund wie den kosmischen Mikrowellenhintergrund, also zu einem Teil auch das Rauschen in alten Röhrengeräten „im Leerlauf“, beschreiben zu können bleibt erst einmal fraglich. Zum Schluss reden wir noch über die Etatkürzungen der NASA und den dadurch um knapp dreißig Jahre verzögerten Start des Gravitationswellenteleskops LISA, das in Satelliten befestigt die Erde umkreisen soll und durch das dann in knapp 20 Jahren mit Daten zu rechnen ist, die noch einmal von einer ganz anderen Qualität sein werden, da sie einen anderen Frequenzbereich abdecken. Das Forschungsfeld der Gravitationswellen-Astronomie steckt gerade noch in seinen Kinderschuhen, gibt uns aber in jedem Fall schon jetzt die Gewissheit, dass da noch jede Menge ist, was wir in den nächsten paar Jahren über unser Universum erfahren können. Unendliche Weiten und so. Herrlich.

Den Abend verbringe ich in der Villa Iceberg bei Flo und Lukas, die von einem Metzger ein Kilo fetten Schinken geschenkt bekommen haben, das er leider nicht mehr loswurde, weil seine Schneidemaschine es nicht zerteilen konnte. Sie haben nun daraus eine Carbonara gezaubert und alle herzlich eingeladen. Bei Wein und Taralli besprechen wir unsere Weihnachtsplanungen: Wir wollen dichteln, also quasi wichteln, nur eben mit Gedichten. Jeder Person wird vorher eine andere zugeordnet, über die sie etwas dichten soll. Ein Lied oder etwas anderen Witziges kann auch vorbereitet werden. Dann wird sich darüber beraten, wem das Gedicht gewidmet gewesen sein sollte und das dazugehörige, kleine Geschenk wird der Person überreicht. Das klingt erstmal kompliziert, ist aber bestimmt ganz witzig, wenn genug Lebkuchen im Spiel ist. Außerdem haben wir vor, in den nächsten Tagen ein Zugabteil im Nachtzug nach München für die Fahrt an Weihnachten nach Deutschland zu chartern. Auch das wird bestimmt wieder eine lustige Aktion werden.

Hey Monk!

Heute ist der Tag, an dem die Säge sägen muss: Flo löst sein Versprechen ein, mir die Haare zu schneiden. Und zwar auf ein paar Millimeter Länge. Was mich gestern Abend letztendlich dazu gestimmt hat zuzustimmen, ist nicht ganz klar – es muss wohl eine Mischung aus Wein und „wann, wenn nicht jetzt“ gewesen sein.

Wir stellen einen Küchenstuhl ins Bad, ich mache das Fenster auf, durch das man uns aus der Küche sehen kann, in der gerade Long, Rémi, Anaïs und ihr Freund Elzear beim Mittagessen sitzen. Als Flo die Maschine ansetzt, ertönt sofort Lachen aus der Küche. Dann ruft Long und fragt, ob Flo ihm auch die Haare schneiden würde. „Aber sicher!“, sagt Flo und schneidet mir einen sauberen Streifen auf den Kopf. Die vier aus der Küche kommen zu uns ins Bad und schauen gebannt zu. Als ich wenige Minuten später kahl geschoren aus dem Bad komme und in den Spiegel blicke, fällt mir zum ersten Mal auf, dass so ein Kopf an sich schon ganz schön rund ist. Nachdem ich mir dann mit den Händen noch ungefähr tausendmal durch die auf 12 Millimeter gekürzten Haare gefahren bin, finde ich langsam auch Gefallen an dem neuen Haarschnitt.

Nach einer kurzen Dusche in unserem Zweitbad komme ich in das zum Friseursalon umfunktionierte andere Bad zurück. Statt Long sitzt plötzlich ein Shaolin-Mönch auf dem Küchenstuhl und im Waschbecken hat sich eine dicke schwarze Katze eingenistet. So sieht es zumindest auf den ersten Blick aus. Auf den zweiten Blick ist es nur ein über beide Ohren strahlender Long, der davon berichtet, dass sein Vater diesen Haarschnitt genau wegen der Shaolin-Mönch-Assoziation hassen wird. Seit diesem Moment sprechen Long und ich uns nur noch mit Hey, Monk! (Hey, Mönch!) an.

In der Uni treffe ich auf Francesco, der mich erst ziemlich verwundert anschaut und dann für den Haarschnitt beglückwünscht. (Puh, Glück gehabt!) Wir sitzen noch ein paar Stunden in der Aula dello Studio und quatschen und besprechen die letzten Vorlesungen. Nach der Uni gehe ich mal wieder zum Bouldern. Heute lasse ich mir jedoch viel Zeit und bin entsprechend ziemlich spät dran und mache mich schon geistig darauf gefasst, eine oretta (ein Stündchen) den Berg in Richtung Stadtzentrum zu laufen, weil die Minimetrò nicht mehr fährt. Als ich dann jedoch mit Andrea, den ich bei einem der letzten Male in der Halle kennengelernt habe, ein bisschen ins Quatschen komme und von meinem Plan berichte hoch in die Stadt zu laufen, fällt dieser fast vom Hocker. Die Italiener sind eben wirklich keine Läufer. Er bietet mir an, mich gleich eben mit seinem Auto hoch zu fahren, was ich natürlich sehr gerne annehme. Im Auto erzählt er mir, wie er in Perugia aufgewachsen ist und jetzt Autoteile verkauft. Als er dann davon berichtet, dass er morgen wieder zum Bouldern kommen will und seine Tochter mitnehmen möchte, sage ich ihm (überrascht davon, dass er obwohl er ziemlich jung aussieht, eine Tochter hat), dass ich dann auch wieder da sein werde. Ich bedanke mich noch knappe zehn Mal und verabschiede mich bis morgen bei ihm.

Das Wochenende in Perugia: Pizza, Alphaville und noch ein Mönch

Freitag nach der letzten Vorlesung bleibe ich mit den anderen noch etwas im Hörsaal um die Vorlesungstermine der nächsten Woche zu klären. Anders als in Deutschland verlassen nach den Vorlesungen nicht immer sofort alle fluchtartig den Hörsaal sondern bleiben erst noch etwas länger sitzen, blättern ein bisschen durch ihre Unterlagen, trinken noch einen Schluck, witzeln dann darüber, dass sie gerade nichts verstanden hätten und stehen dann laaaaaangsam auf um sich dann letztendlich doch wieder hinzusetzen, weil sie sich wieder festquatschen. Das italienische Leben ist eben deutlich entspannter als das deutsche. Ich glaube, ich habe in den ganzen zwei Monaten, die ich hier bisher verbracht habe, noch keinen Italiener rennen sehen, während ich hingegen immer noch morgens zur Uni spurte. Aber ich krieg das bestimmt auch noch hin. Wäre auch nett, wenn ich das dann nach Deutschland exportieren könnte.

Andrea ist leider nicht in der Boulderhalle, dafür aber Omar und Roberto, mit denen ich mich auch gut verstehe. Während ich beim Sport bin, buchen die anderen Deutschen unsere Zugtickets für Weihnachten und planen den Abend. Wir treffen uns zum gemeinsamen Pizzaessen auf den scalette, denn die Temperaturen haben wieder ein bisschen angezogen und Pizza gab‘s jetzt auch schon bestimmt drei Tage lang nicht. Es ist Ende Oktober und wir sitzen bis um Mitternacht auf den Stufen und lernen wieder ein paar neue Italiener kennen. Durch das gute Wetter und dadurch, dass heute das EuroChocolate-Festival begonnen hat, ist die Stadt auch jetzt noch voller als ich sie bisher gesehen hatte.

Das EuroChocolate-Festival findet seit knapp 25 Jahren in Perugia statt und zieht jährlich innerhalb von einer Woche knapp eine Million Menschen in die Stadt, die sich an Verkaufs- und Probierständen auf den großen Plätzen und Straßen der Stadt im Zentrum tütenweise Schokolade kaufen. Alle großen und kleinen Marken der Schoko-Branche sind vertreten und bieten ihre neuesten Kreationen an, allen voran Perugina, der Hersteller der Baci. Vor einigen Jahren wurde hier sogar der weltgrößte Schokoriegel mit sieben (!) Metern Länge und zwei Metern Höhe hergestellt. Francesco hat uns davon abgeraten, hier Schokolade zu kaufen, weil sie um ein vielfaches teurer sei als nächste Woche im Laden, aber unser Plan ist es, trotzdem in den nächsten Tagen mal vorbei zu schauen. Wir müssen ja nichts kaufen.

Mein Plan ändert sich jedoch dramatisch am nächsten Tag: Mein Weg zum Pam locale, dem nächsten Supermarkt-ähnlichen Geschäft dauert knapp dreimal so lang. Die Stadt wimmelt nur so von Touristen, die sich in langen Schlangen vor den Ständen tummeln. Auch der süßeste Schoko-Duft kann nicht meinen Hass auf langsame, vor mir herwackelnde Touris mit zwölf Taschen voll mit Baci mindern, die mir den Weg zum supermercato versperren. Ich glaube ich halte mich in den nächsten Tagen doch lieber fern vom Stadtzentrum.

Nachdem ich eingekauft habe, treffen ich mich mit Sophie, Verena, Lukas und Flo vor dem Supermarkt und wir machen einen Spaziergang durch die abgelegeneren Teile der Stadt in Richtung Facoltà di Agraria, der Fakultät für Agrarwissenschaften, direkt neben den Giardini del Frontone, also quasi den „Stirngärten“. Wir setzen uns auf die Bänke, essen Trauben und Oliven, Verena liest Harry Potter auf Italienisch vor und Flo massiert uns. Auf dem Rückweg machen wir noch einen Abstecher beim Alphaville, der Bar, bei der Federica arbeitet.

Den Sonntag verbringe ich praktisch durchgehend am Schreibtisch um die letzte Woche ein bisschen nachzuarbeiten. Um heute Abend doch noch irgendwie aus dem Haus zu kommen, entschließe ich mich spontan zu dem Gottesdienst zu gehen, zu dem mich Francesco letzte Woche eingeladen hatte. Als ich die Kirche betrete, fällt mir Francesco sofort in die Arme und begrüßt mich ziemlich stürmisch. Während im Hintergrund der Chor irgend ein Gospel-Stück probt, stellt er mir innerhalb kürzester Zeit die halbe Kirchengemeinde und seine Freundin vor, die mir während des Gottesdienstes ein bisschen zur Seite stehen soll, wenn ich Fragen haben sollte. Er selbst verschwindet kurz und erscheint wenig später im Messdienergewand. Offensichtlich ist die Studierendengemeinde sein sozialer Ausgleich neben der Uni.

Francescos Freundin Beatrice stellt mir auch gleich noch fünf Freundinnen von ihr vor, die mich sofort fragen, ob ich auch noch „später mitkäme“. Francesco hatte mir schon erzählt, dass nach der Messe am Sonntagabend immer alle mit in das Gemeindehaus, das auch einen studentischen Lernraum beinhaltet, kämen um noch gemeinsam etwas zu essen. Aber klar bin ich dabei! Ich habe den ganzen Tag über schon nichts Richtiges gegessen.

Die Messe beginnt und ich verstehe wie schon in der Messe im Dom von Perugia vor ein paar Wochen nicht wirklich, worum es in Predigt, usw. geht. Ist aber auch nicht so schlimm. Zum Runterkommen nach 10 Stunden Pfadintegralen und effektiven Wirkungsfunktionalen kommt mir das bisschen sprachlicher Input eigentlich ganz gelegen. Nach der Messe lerne ich Simone, der an der Uds Mathe studiert und Marcel, der aus Palästina kommt und in einer Bäckerei arbeitet, kennen und wir unterhalten uns ein bisschen.

Als wir uns auf dem Weg zum Gemeindehaus befinden, spricht mich plötzlich von hinten der Pfarrer von vorhin an, der jetzt jedoch eine Mönchskutte anhat: Fra (Bruder) Giorgio stellt sich mir vor und sagt als erstes als ich sage, dass ich aus Deutschland komme, sehr langsam und mit einem sehr lang gerollten R „KARRRRRRRTOFFEL“ und starrt mir dabei tief in die Augen. Ich weiß nicht ganz, wie ich reagieren soll und er wiederholt das gleiche Spiel noch einmal. Nur noch lauter. Immer noch keine Reaktion meinerseits. „MERRRRRRKEL“. „Sì, Merkel?“ frage ich vorsichtig. „Beh, sì! MEEEEEERRRRRKEL!“. Ich sorge dafür, dass er nicht weiter „Kartoffel“ in die Nacht schreit und erzähle ihm, dass mir sein Gottesdienst gefallen habe (was bleibt mir auch anderes übrig?), was ihn zumindest zum Lächeln bringt. Zum Glück springt Francesco ein und lenkt ihn wieder mit irgendetwas anderem ab um die unangenehme Situation für mich abzuwenden.

Im Gemeindehaus angekommen, läuft Fra Giorgio mit einer Tüte Chips rum und verteilt diese brüderlich unter den ca. 50 anwesenden Mittzwanzigern, die mir inzwischen alle ihren Namen und ihr Studienfach gesagt haben und ein wenig mit mir geschwatzt haben. Das Sprechen läuft erstaunlich gut und die meisten anderen wirken auch nicht wirklich wie religiöse Fanatiker auf mich, was meine anfänglichen Vorbehalte schon sehr relativiert. Nur etwas unangenehm war es dann doch, dass sich bald wieder Fra Giorgio zu mir setzt um mit mir über Gott und die Welt zu reden, wobei die Betonung eher auf Gott als auf der Welt liegt.

Ich sage ihm relativ eindeutig, dass ich eher ein Problem mit der Kirche und ihren Strukturen als mit Religion an sich hätte und den Pantheismus eigentlich ganz sympathisch fände. Natürlich alles nur durch die Blume, er ist ja immer noch ein katholischer Geistlicher und hat mich de facto gerade zum Essen eingeladen, das nebenbei bemerkt wirklich gut war. Ein paar sprachliche Probleme habe ich dann aber doch, ihm glaubwürdig in einer Diskussion zu vermitteln, dass ich durchaus nicht an einen persönlichen Gott glauben muss um mir die Welt zu erklären. Ihm macht das Gespräch jedenfalls sichtlich Spaß und er gibt mir Zeit zum Sätze formulieren und korrigiert mich, wenn ich sprachliche Fehler mache. Wir sprechen noch ein wenig über meine Zeit in der SchülerUni in Dortmund und schließlich dankt er Francesco, dass er mich vorbei gebracht hat. Ob er das gesagt hat, weil er mich doch noch zum bibeltreuen Christen konvertieren möchte oder weil er das Gespräch an sich mochte, kann ich noch nicht sagen. Ich werde mir nochmal meine Argumente zurecht legen und dann ein andermal nochmal vorbeikommen. Vielleicht nicht unbedingt nächste Woche, aber irgendwann mal bestimmt. Um meinen italienischen Wortschatz zu erweitern, war das Gespräch mit ihm auf jeden Fall sinnvoll.

So. Das war‘s wieder mit den Neuigkeiten aus Italien. Die (inzwischen vorletzte) Woche war wieder eine tolle Erfahrung und hat bei mir dafür gesorgt, dass ich mich jetzt zunehmend an der Uni hier wohlfühle und ich daran zweifle, ob ich überhaupt noch vor Dezember aufgrund der hohen Temperaturen in Herbst- bzw. Weihanchtsstimmung kommen kann. Mal gucken, wann es denn jetzt tatsächlich mal kälter wird. Für den Moment bin ich jedenfalls ganz zufrieden damit, noch ein bisschen draußen auf dem Balkon sitzen zu können und den Menschenmassen dabei zusehen zu können, wie sie sich gegenseitig zur EuroChocolate ins Stadtzentrum schieben.

Geschrieben am 27. Oktober 2019