Der Earth Strike in Italien

Hallo, mein Name ist Mohnblume. Setz dich doch!

Ursprünglich hatten wir geplant, nach unserer gestrigen Wanderung nach Assisi früh nach Rom aufzubrechen und dort das Wochenende zu verbringen. Dadurch, dass wir dann jedoch später zurück waren als wir es geplant hatten und der Zug nach Rom schon gegen sechs Uhr heute morgen abfuhr, haben wir es uns dann doch noch spontan anders überlegt. So bleibt mir heute auch ein bisschen Zeit zum Aufschreiben der letzten Woche. Ich setze mich zusammen mit Flo auf die Terrasse des Umbrò und genieße das vermutlich zweitbeste Panorama über Umbrien, das Perugia zu bieten hat (das meiner Meinung nach beste Panorama befindet sich bei der Rocca Paolina). Von hier aus kann man sogar bis nach Assisi gucken. Der Gipfel des Monte Subasio, an dessen Hängen Assisi gebaut wurde, ist heute sogar auch deutlich zu sehen und noch mehr als bisher habe ich das Gefühl, dass sich Peter Jackson beim Verfilmen der Herr der Ringe Trilogie sehr an genau diesem Panorama orientiert hat, als er sich überlegt hat, wie die Städte Helms Klamm und Minas Tirith auszusehen haben. Lukas sieht das anders, aber ich glaube, ich bleibe dabei. Bisher war der ca. 30 Kilometer entfernte Berg immer in mehr oder weniger dichten Dunst gehüllt, jetzt bilde mir jedoch sogar ein, den Weg nachvollziehen zu können, den wir gestern gelaufen sind. Die Terrasse werde ich in den nächsten paar Wochen vermutlich noch öfter aufsuchen, solange es nicht zu kalt zum draußen Sitzen ist. Nicht nur die Aussicht ist hervorragend, auch der Cappuccino, den ich mir bestellt habe, schmeckt so, als ob ich ihn auf jeden Fall nochmal probieren müsste. Verrückt. Nach einiger Zeit beschließen wir, uns mit Hannah auf einer Wiese vor einer Kirche zu treffen, die schon zuvor beim Gang zur Mensa sehr einladend ausgesehen hatte.

Auf der Wiese angekommen, suche ich Hannah und Flo, der schon vorgegangen war, während ich mir noch einen Pullover geholt hatte, weil es sich inzwischen doch etwas zugezogen hatte. Ich sehe einige größere Gruppen von Jugendlichen, aber nicht die beiden. Plötzlich höre ich, wie mein Name von einer der größeren Gruppen aus gerufen wird. Anscheinend haben mich Flo und Hannah schon kommen sehen und sich der Gruppe angeschlossen. Und was für eine Gruppe! Als ich mich setze, werde ich sofort von einer älteren, barfüßigen, maximal einsfünfzig großen Frau noch herzlicher als es eh schon in Italien üblich ist begrüßt. Sprich: Mit Handkuss, uäh. Ein bisschen seltsam, aber was soll‘s . Sie stellt sich als „Papàvero“ vor – also als Mohnblume, wie ich später erfahren werde. Woher der offensichtliche Spitzname kommt, kann ich nur vermuten. Innerhalb kurzer Zeit sammeln sich bestimmt noch zehn weitere Jugendliche um sie herum und es stellt sich heraus, dass sie hier anscheinend eine Art Sozialarbeiterin ist. Sie lässt sich von den Problemen der maximal 16-Jährigen berichten und gibt mehr oder weniger pädagogisch sinnvolle Tipps und Anmerkungen und raucht dabei Gras. „Super Vorbild“, denke ich. Währenddessen streunt ihr kleiner Hund über die Wiese und besorgt sich von den Herumsitzenden seine Streicheleinheiten. Die „Anmerkungen“ von der Mohnblume sind ungefähr auf dem Niveau von „wenn ich deine Mutter wäre, würde ich deinen Lehrern mal sagen, was ich von ihnen halte!“. Uns wird die ganze Situation bald doch recht unangenehm und wir verziehen uns zum Abendessen in die Mensa. Natürlich nicht, ohne von der Kiffer-Oma nochmal einen Handkuss zu bekommen. Bäh.

Auf dem Weg zur Mensa quetsche ich die beiden aus, wie sie denn an diese seltsame Gestalt geraten sind. Anscheinend wurde Hannah ziemlich direkt von ihr aufgefordert, sich zu ihrer Gruppe dazuzusetzen. Das scheint wohl die Masche der Mohnblume zu sein. Okay, hoffen wir, dass wir nicht bald wieder von ihr erkannt werden. Vor der Mensa treffen wir noch Lukas, mit dem wir uns zum Abendessen verabredet haben. Den Abend lassen wir auf den scalette ausklingen und diskutieren dabei aus irgendwelchen Gründen darüber, welche Jobs besser entlohnt werden sollten als andere. Klingt jetzt nicht so begeisternd, war aber doch durchaus ganz witzig. Dass Sara zwischendurch mit einer halben, kalten Pizza in der Hand vorbeikam, war noch besser.

Warum die Kirche daran schuld ist, dass das hier Brot steinhart und zum Erbrechen ist

Wir haben uns vorgenommen, heute zusammen in die Kirche zu gehen. Einerseits soll der Gottesdienst von einem Chor aus Assisi begleitet werden, andererseits soll es heute regnen und für Museumsbesuche in Perugia ist es mir noch nicht kalt genug. Den Dom von Perugia hatte ich mir bisher nur von außen angeschaut, von daher wird es eigentlich höchste Zeit mal reinzuschauen. Der Gottesdienst an sich verläuft im Prinzip wie ein deutscher, katholischer Gottesdienst: Priester mit Messgewändern und Stola sprechen die durch die Liturgie festgelegten immergleichen, salbungsvollen Worte, nur durch eine mehr oder weniger relevante Predigt unterbrochen. Nur eben auf italienisch und dadurch für mich ganz erfrischend. Nach dem Gottesdienst schaue ich mir kurz die Bronzestatue von Papst Julius III vor dem Dom aus dem Jahr 1555 genauer an, nachdem wir gestern noch über dessen Handgeste gewitzelt hatten.

Der gute Julius war zwischen 1550 und 1555 Papst, vorher hatte Paul III das Sagen über die katholische Kirche und damit auch über Perugia. Das Verhältnis der Perugianer zur Kirche änderte sich 1540 dramatisch, als Papst Paul III sich dazu entschied, der Bevölkerung der Stadt nur noch den Kauf von Salz aus den päpstlichen Salinen zu erlauben, welches doppelt so teuer war wie das bisher aus Siena importierte Salz. Die Perugianer verloren den sich dadurch entwickelnden sog. „Salzkrieg“ und große Teile der perugianischen Ländereien wurden von päpstlichen Truppen verwüstet. Man verlor die weltliche Autonomie und beschloss aus Protest nur noch Brot komplett ohne Salz zu backen. Letzteres spürt man auch heute noch, wenn man versucht, ein Brot zu bekommen und nur verdammtes „pane sciocco“ (wortwörtlich „dummes Brot“) bekommt, welches sich aus dem „pane sciapo“ (dem „faden Brot“) entwickelte. Na danke… Ein schöneres Relikt dieser Zeit ist die Rocca Paolina, die der Papst Paul III damals zur Überwachung der Stadt durch seine Garnison von den Bürgern der Stadt erbauen ließ. Aus Dank der Bürger an Papst Julius III für eine Verringerung der Strafen seines Vorgängers, errichtete man vor dem Dom der Stadt die beschriebene Statue, die dort bis heute steht und Julius gnädig über die Stadt schauen lässt.

Nachdem ich die Spuren des Salzkrieges beim Einkaufen in Form eines (ähnlich widerwärtigen aber dafür nicht innerhalb von 24 Stunden zu Stein aushärtenden) Vollkorn-Toasts abgewendet habe, mache ich mich auf zum Spieleabend bei Hannah auf, die zusammen mit den anderen einen Kuchen gebacken hat, der wirklich aller erste Sahne ist. Wir spielen Karten und ich muss weitere, gefühlt 1000 Rätsel über mich ergehen lassen, die die anderen vermutlich tatsächlich unterhaltsam finden.

Das Klimapäckchen der Groko

Der Montag beginnt früh: Ich will mir noch die letzten Informationen zum Klimapaket der Groko raussuchen, bevor der Sprachkurs beginnt. Ich gucke mir eine Talkshow mit Peter Altmaier, Annalena Baerbock und Ottmar Edenhofer an und bekomme zunehmend schlechte Laune von den Graupen, die uns diese Lachnummer verkaufen wollen. Altmaier wird berechtigterweise von allen Seiten angegriffen, während er versucht den Flopp zu verteidigen. In Tagen, in denen allein deutschlandweit Millionen Menschen auf die Straßen gehen um klare politische Statements auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse einzufordern, ist es absolut albern, geradezu unverantwortlich so eine Zumutung von „Maßnahmenpaket“ zu verabschieden. Voller Stolz, wohlgemerkt. Soviel also zu „Kein Pillepalle mehr“. Anscheinend ist noch nicht ganz angekommen, dass die drohende Klimakrise und die daraus folgenden häufigeren Wetterextreme, der Wassermangel, die sinkende Ernten, das Massenaussterben, die im Meer versinkenden Millionenstädte, die kollabierenden Ökosysteme und die ausbrechenden Pandemien in den nächsten 50 bis 100 Jahren auch gerade den Wohlstand gefährden, dessen Erhaltung hier mit Scheinargumenten als Grund für ein Stillstehen in der Debatte herangezogen wird. Ich bin mehr als nur gespannt, wie man mit hunderten Millionen Klima-Flüchtlingen aus Entwicklungsländern in Zentraleuropa umgehen will, die nicht mal im internationalen Flüchtlingsrecht vorkommen. Die Zeit, die wir noch haben um eine 180-Grad-Wende in der Klimapolitik zu erreichen, um klimaneutral zu werden, um netto keine Kohlenstoffdioxid-Emissionen mehr zu verursachen, liegt bei knapp 10 Jahren. Warum gerade dieser aktuelle Moment des Rückenwinds der Gesellschaft nicht für die nötigen Reformen genutzt wird, ist mir absolut schleierhaft. Wenn dann als Antwort auf die Forderungen der weltweiten Proteste von einem Peter Altmaier zurückkommt, wie schwierig Abstandsregelungen für Windräder zu planen seien, wandelt sich mein Unverständnis jedoch in Wut. Gerade diese Eröffnung von Randgruppen-Entertainment und damit einhergehenden ausbleibenden wirksamen Maßnahmen wird in wenigen Jahren ein noch nie dagewesenes Schauspiel des menschlichen Versagens und Leidens heraufbeschwören. Ja, wir sind spät dran und ja, es ist nicht einfach, das Vorhaben sozial verträglich umzusetzen. Aber wenn es sich nicht lohnt, die eigene Zeit in dieses Vorhaben zu investieren, in was denn dann? Was auf dem Spiel steht, ist es nicht wert, weiter zu trödeln. Liebe Groko, wie wagt ihr es? #howdareyou

Dass ich mit dieser Sicht der Dinge nicht alleine dastehe, zeigt auch das gemeinsame Mensaessen vor dem Sprachkurs. Wir hatten bereits zu der Fridays for Future Gruppe in Perugia Kontakt aufgenommen; jetzt überlegen wir, was wir tun können, um möglichst viele Erasmus-Studierende am Freitag auf die Straße zu bringen. Nach dem Sprachkurs kehre ich zurück, bereite mir ein paar Tortellini zu und versuche den Kopf beim Bouldern freizubekommen, was mir auch mehr oder weniger gut gelingt. Dumm nur, dass ich danach weiter in der im Internet veröffentlichten Fassung des Klimapäckchens gelesen habe. Die nächsten Tage sollte ich vor dem Einschlafen wieder weiter an meiner Biografie von Humboldt lesen, das ist besser für meinen Blutdruck.

Das Ende vom Sprachkurs

Die Ignoranz der deutschen Politik hat mir letzte Nacht den Schlaf geraubt, entsprechend schlecht ist meine Laune als ich am nächsten Tag auf dem Weg zum Sprachkurs bin. Sei es der Muskelkater in den Beinen vom Sport gestern oder einfach das gute Wetter: Ich kann meine Beine kaum still halten und habe ungeahnte Lust mir einfach meine Laufschuhe zu packen und durch Umbrien zu wandern. Letztendlich meldet sich dann doch die Vernunft mit der Erinnerung, dass heute der letzte Tag vor den Prüfungen zum Ende des Sprachkurses ist und ich gehe doch noch zum Kurs. Immerhin darf ich vorher noch sieben Stockwerke Treppen gehen. Fast genauso gut. Während des Kurses informiere ich mich noch zu weiteren Angeboten der Ausländeruni. Italienische Kunstgeschichte und auch ein Kochkurs sind mit dabei. Das klingt doch erst mal ganz witzig. Ich werde mir dazu bei Gelegenheit noch ein paar Informationen besorgen.

Endlich ist der Kurs vorbei! Zusammen mit Verena, Lukas und Flo, die auch alle aufgrund des guten Wetters Lust auf ein bisschen Bewegung haben, spaziere ich noch ein wenig durch die Stadt bis nach Monteluce. Auf dem Rückweg melden wir uns noch eben zu einer von ESN organisierten Kneipentour morgen Abend an. Nach einem Abstecher in die Mensa kehren wir in die Villa Iceberg ein und besprechen unsere Pläne fürs Wochenende. Ursprünglich hatten wir geplant, das lange Wochenende zwischen dem Ende der Sprachkurse und dem ersten Vorlesungstag in Florenz zu verbringen. Durch die hervorragenden Wetterprognosen und die Empfehlung, Florenz im Winter zu besuchen, wenn es etwas leerer in der Stadt ist, disponieren wir um. Dieses Wochenende wollen wir eine Wanderung von Assisi nach Spello über den Monte Subasio machen. Nach dem Raussuchen der Züge nach Assisi und zurück nach Perugia startet dann eine weitere Diskussion aus dem Nichts zu Amazon und den Plänen des Amazon-CEO Jeff Bezos den Mars zu besiedeln. Bezos gilt seit 2017 als reichster Mensch der Welt und wurde auf dem Weltkongress des internationalen Gewerkschaftsbundes 2014 zum „Schlechtesten Chef der Welt“ gewählt.

Lessie, Marley und Rocky

Der Sprachtest findet im CLA statt, leicht außerhalb der Stadt, wo auch schon der Einstufungstest vor knapp 4 Wochen von uns geschrieben wurde. Erst Hörverstehen, dann Leseverstehen, Grammatik und Textproduktion werden abgefragt. Insgesamt ziemlich gut machbar. Als Leitmotiv zog sich das Thema „berühmte Hunde in Film und Fernsehen“ durch fast alle Aufgaben. Die mündliche Prüfung im Anschluss daran, war dann doch schon fordernder: Zusammen mit einem selbst gewählten Partner sollte nach 5 Minuten Vorbereitung auf die Prüfung, ein Dialog zu einem bestimmten Thema gehalten werden. Ich habe mich mit einem witzigen polnischen Studenten aus meinem Sprachkurs zusammen getan und versuche nun einen Dialog zu spinnen, dessen Grundlage ein Bild von zwei Personen in einem Café ist, die sich einen Kopfhörer teilen. Wir denken uns die folgende Geschichte aus: Person A kommt ins Café und fragt B, welche gerade Kopfhörer in den Ohren hat, was diese denn für Musik höre. Person B antwortet, dass sie gerade ein Rammstein-Lied hört, worauf A erwidert, dass das auch ihre Lieblingsband sei. Nach ein bisschen Unterhaltung entschließt man sich, gemeinsam nach Karten für ein Konzert zu suchen und Telefonnummern auszutauschen. Die beiden Sprachlehrerinnen fanden es jedenfalls unterhaltsam und sahen auch eigentlich ganz zufrieden aus. Jetzt nichts wie zurück in die Stadt und zum Bouldern. Heute will Flo mitkommen.

Das Bouldern läuft sehr gut und Flo will auch das nächste Mal wieder mitkommen. Sehr cool! Wir kehren zurück in die Stadt und ich schaue kurz bei Anaïs Geburtstagsfeier rein, die bei uns in der Küche stattfindet. Überraschung, Giorgio ist wieder mit dabei. Ich kann jedoch nicht lange bleiben, da für jetzt die Kneipentour geplant ist, die vor der Ausländeruni startet, die wir inzwischen aus Witzigkeitsgründen nur noch Ups (kurz für Università per Stranieri) im Gegensatz zur Uds (kurz für Università degli Studi, sprich Utz) nennen. Die Gruppe ist riesig, bestimmt 200 Leute, und vorsichtigen Schätzungen zufolge zu knapp 80% spanisch. Dass ich keine Zeit mehr zum Essen hatte, rächt sich recht bald und ich suche mir zusammen mit Flo eine Pizzeria, während die anderen auf ihre Getränke warten. Nach den ersten vier Kneipen, die alle gerammelt voll mit Spaniern sind, versuchen wir dem großen Mob zuvor zu kommen und laufen schon mal zur fünften und letzten Kneipe. Dort angekommen, treffen wir auch schnell Anaïs und Rémi in Begleitung von Giorgio wieder. Spontan eröffne ich eine Whatsapp-Gruppe zur Koordination der Vorbereitung des Klimastreiks, der übermorgen stattfinden wird und lade über ESN alle ein, mitzumachen. Sogar einigermaßen erfolgreich, wenn auch leider primär nur bei den Deutschen. Wir verabreden uns für morgen zum Banner und Plakate basteln. In meinem Schrank lagen beim Einzug jede Menge alte Bettlaken rum, von denen wir eines in ein Banner verwandeln wollen. Lukas hat diesbezüglich schon Erfahrung und zusammen mit Flo sogar schon lange Bambusstangen zum Basteln gesammelt und Farbe gekauft.

Wie man ein beeindruckendes Banner bastelt

Es ist neun Uhr morgens und die Kneipentour von gestern Abend hängt uns noch merkbar in den Knochen, aber was zählt, ist die Mission: Flo, Lukas und ich treffen uns um zu planen, was auf dem Banner stehen soll. Nach weniger als zwei Stunden steht dann sogar der Text und der zugehörige Entwurf auf dem Computer. Die größte Schwierigkeit war es, einen Kompromiss zwischen unseren verschiedenen Interessen beim Schreiben der Botschaft zu finden, die wir vermitteln wollen. Der Text darf nicht zu lang, nicht zu kompliziert und nicht zu negativ klingend sein. Darüber hinaus soll klar werden, dass wir alle Austausch-Studierenden einbeziehen wollen. Wir entscheiden uns letztlich für den Schriftzug WE RISE UP. WE SURVIVE. (Wir erheben uns/stehen auf/wachsen. Wir überleben.). Daneben, getrennt von einer dicken schwarzen Linie, Erasmus for Future. Was nun passieren muss, ist, möglichst mit einem Beamer unseren Text auf das inzwischen in der Mitte zerteilte Laken anzuprojezieren und die Konturen der einzelnen Buchstaben anzuzeichnen. Einziges Problem: Wir haben keinen Beamer.

Wir gehen also zum Institut für Politikwissenschaft (Scienze Politiche), von dem wir wissen, dass es dort Beamer in den Hörsälen gibt. Leider haben wir vergessen das Laken mitzunehmen. Verdammt. Der Weg zurück und wieder zum Institut kostet uns wertvolle Zeit, denn das Malen wird bestimmt noch etwas dauern und die Farbe wird bis morgen früh noch trocknen müssen. Als wir dann nach einigen Anläufen endlich einen freien Hörsaal gefunden haben, beeilen wir uns damit wir nicht gleich einem wütenden Prof erklären müssen, warum wir in seinem Hörsaal den Beamer missbrauchen. Das hätte auch fast gut funktioniert. Gerade, als wir das erste Laken an die Wand geklebt hatten, betritt eine mies dreinschauende Italienische Dame den Raum, die sich als erstes die Fernbedienung des Beamers schnappt, diesen ausschaltet und uns dann ziemlich angenervt fragt, was uns denn einfallen würde in den Hörsaal einzubrechen und woher wir denn überhaupt die Fernbedienung für den Beamer hätten. Kurzes Schweigen. Flo fragt, ob ihr „Fridays for future“ etwas sage. Nein, das sage ihr nichts. (Herrgott, hat die das letzte halbe Jahr in einer Höhle verbracht?) Flo erklärt das Ganze in einer scheinbar so charmanten Art und Weise, dass diese uns letztendlich sogar gewährt noch schnell das andere Laken zu beschriften, unter dem Versprechen, dass wir ihr danach die Fernbedienung des Beamers aushändigen und dann abhauen würden. Das klingt doch super! Leider hat keiner von uns eine Notfall-Schokolade dabei um ihr zu danken. Nach keiner Viertelstunde sind wir durch und bringen die Fernbedienung, die bei unserer Ankunft im Hörsaal auf dem Pult lag, zu ihrer Kollegin, die offenbar schon über uns informiert wurde.

Bei einem Abstecher in die Mensa lerne ich Meike, Justine und Fanni kennen, die vor ein paar Tagen aus Deutschland und Ungarn angekommen sind. Fanni schließt sich uns an und wir bemalen gemeinsam das erste Laken. Beim zweiten Laken wird sie durch Alina und Robin aus Rumänien und Deutschland abgelöst. Um der Farbe vor dem Vernähen der Laken etwas Zeit zum Antrocknen zu geben, machen wir eine kurze Mensa-Pause, bei der wir noch auf Lara treffen, die uns gerne noch begleitet um sich ein Schild zu basteln. Gerade das Vernähen der Laken stellt sich als sehr mühsam und zeitintensiv heraus; so zeitintensiv, dass wir nach Mitternacht immer noch zugange sind. Doch das fertige Banner ist wirklich perfekt geworden! Wir machen noch schnell ein paar Bilder und verabreden uns dann für Viertel vor neun an der Fontana auf der Piazza. Zwischendurch hat sich heute noch ein ESN Mitglied bei uns gemeldet, das wohl für einen lokalen Radiosender arbeitet und gerne von uns Fotos und Videos machen würde. Mal gucken, was daraus wird.

Der Earth Strike

Die Sonne lacht und es ist gerade warm genug, um schon früh morgens in kurzer Hose und T-Shirt aus dem Haus zu gehen. Ich schnappe mir die Kamera und zwei Plakate und mache mich mit Sara und Verena auf den Weg zur Piazza. Da kommen auch schon Flo und Lukas mit dem gigantischen Banner und den restlichen Schildern, die wir gebastelt hatten. Wir machen uns gemeinsam mit Scharen von Studierenden, Schülerinnen und Schülern auf den Weg zur Piazza Partigiani, die normalerweise als Busbahnhof oder Marktgelände dient. Schnell wächst unsere Gruppe auf ca. 20 Austauschstudierende an, sogar Giorgio ist mit dabei und schnappt sich sofort das „Non c‘è diritto di Kohlebaggerfahren“-Schild, das wir schon letzte Woche gebastelt hatten. Wir als Austauschstudierende stellen auf jeden Fall eine Minderheit in der von mir auf 2000 Menschen geschätzten Gruppe dar. Dafür haben wir das vermutlich größte (und schönste) Banner – zumindest haben wir keines gesehen, das an unseres drankommen könnte. Kaum nachdem wir unser Banner geöffnet hatten, bekommen wir auch schon direkt das erste Bild von Antonio geschickt, dem Reporter, der sich gestern bei uns angekündigt hatte und sich strategisch sinnvoll höher positioniert hat. Wir sind auf jeden Fall sehr gut sichtbar. Die Arbeit hat sich also gelohnt.

Und los geht d’r Zoch! Die Menge setzt sich in Bewegung und strömt über die Straßen in Richtung Piazza Italia, direkt an der Rocca Paolina und den Gärten Giardini Carducci. Auf dem Weg nach oben kommt die Sonne dann richtig raus und lässt nochmal sommerliche Gefühle hoch kommen. Wir sehen jede Menge Schulklassen und auch einige bekannte Gesichter. Unter anderem auch Papàvero. Gut, dass sie uns nicht sieht, sonst hätten wir vermutlich wieder ein paar feuchte Handküsse abbekommen. Für heute hat das italienische Schulministerium allen weiterführenden Schulen das Streiken freigestellt, die meisten Grundschulen machen Ausflüge zum Klimastreik und die Uds hat ebenfalls dafür gesorgt, dass heute keine Lehrveranstaltungen stattfinden dürfen, damit alle zum Streik kommen können. Das nenne ich mal Engagement! Auf dem Weg nach oben sehen wir jede Menge mit viel Liebe zum Detail erstellte Plakate. Mein Favorit ist „Roses are dead, violets are too. Forests are burning and soon you’ll be too.“ („Rosen sind tot, Veilchen sind es auch. Die Wälder sind am brennen, und ihr seid es bald auch“). Doch es sind vor allem junge Menschen, die auf der Straße sind. Die einzigen beiden älteren Herrschaften, die ich sehe, tragen ein Banner vor sich her, auf dem sie auf den „wahren“ Ursprung der extremen Wetterphänomene hinweisen: Chemtrails. Ogottogott. (Für alle, denen das nichts sagt: Chemtrails sind Teil einer ganzen Reihe von Verschwörungstheorien, bei denen die Existenz von Kondensstreifen am Himmel nicht durch in der Höhe kondensierte Flugzeugabgase erklärt wird sondern durch Chemikalien, die von fremden Regierungen zur Wetteränderung für u.A. militärische Zwecke in die Atmosphäre gebracht werden.)

Eine Schulklasse fängt an, „Bella Ciao“ zu singen und es ergeben sich einige weitere Sprechchöre wie Non inquinare! Basta sporcare!, Un futuro! Un futuro! Noi vogliamo un futuro! und Noi vogliamo un mondo pulito!, die eine saubere Welt und Zukunft fordern. Aus dem Augenwinkel sehe ich beim Tragen des Banners einen Mittdreißiger mit blauem CERN-Shirt. Ich lasse mich kurz ablösen und fange ein kurzes Gespräch mit ihm an. Roberto arbeitet an composite models, also Modellen, bei denen eine eventuelle Substruktur der Elementarteilchen des Standardmodells der Teilchenphysik erforscht wird. In seinem Dunstkreis sind noch ein paar weitere Wissenschaftler, die ich frage, ob es in Perugia eine Scientists for Future- Gruppe gibt, was diese kopfschüttelnd verneinen. Anscheinend gibt es bisher nur in deutschsprachigen Gebieten S4F-Gruppen. Roberto lädt mich dazu ein, bald mal bei ihm vorbei zu kommen. Eventuell ließe sich da etwas initiieren. Puh, also eine ganz neue S4F-Gruppe mit aufzubauen klingt nach etwas viel Arbeit, aber es klingt doch nach einem interessanten und lohnenswerten Unterfangen. Ich werde mal dranbleiben, ob sich dafür ein paar Leute finden lassen.

Auf der Piazza Italia angekommen, wird (wie ich es schon vom letzten globalen Klimastreik in Aachen kenne) auf einer kleinen Bühne eine Art Ersatz-Schulstunde von Lehrern angeboten, der tatsächlich sogar die meisten der Jüngeren zuhören. Als das offizielle Programm vorbei ist, rollen wir unser Banner zusammen und wollen uns gerade auf den Weg zur Mensa machen, als wir plötzlich von einer älteren Dame angesprochen werden. Aha! Es gibt sie also doch, die Rentner for Future in der Sektion Perugia! Sie fragt uns auf Englisch mit einem ziemlich starkem deutschen Akzent, ob sie nicht (wie schon einige Leute zuvor) ein Foto von uns machen könnte. Klar, warum nicht? Wir fragen sie, woher sie kommt und es stellt sich heraus, dass sie aus Belgien, genauer aus der Nähe von Eupen, direkt hinter der deutschen Grenze und damit auch direkt aus der Nähe von Aachen kommt. Und das hört man auch. Wir verquatschen uns ein wenig und sie berichtet, wie sie den Franziskusweg (ein Pilgerweg von Florenz über Assisi nach Rom, liebevoll „Tour de Franz“ genannt) bis hierher gelaufen sei und von einem Sraßenhund in die Wade gebissen wurde. Sie gibt uns noch einige Tipps für unsere Tour zum Monte Subasio und fragt uns dann ob wir „diesen einen tollen Text“ gelesen hätten. Erst denke ich an die großartige Rede von Greta Thunberg aus den letzten Tagen, durch die der Satz „How dare you?“ innerhalb kürzester Zeit internationale Berühmtheit erlangte. Wir wissen nicht, was sie meint und lassen uns von ihr den Text zuschicken.

Beim Essen in der Mensa lasse ich mir den Text zeigen, von dem die Belgierin behauptete, dass er „gerade für uns absolut lesenswert“ wäre und dass an ihm „schon etwas Wahres dran“ wäre. Mich trifft der Schlag. Der Text richtet sich an die „Kinder der 50er, 60er und 70er“ und der Autor erdreistet sich, der „Jugend“ vorzuwerfen, was ihr denn einfiele sich bei gerade der Generation, die ihre Kindheit draußen im Grünen verbracht hätte, über mangelnden Umweltschutz zu beschweren. Scheinargumente (und immer ad hominem, nebenbei bemerkt) wie „ihr lasst euch doch gerne im SUV zur Schule fahren“ werden herangeführt um zu rechtfertigen, dass die Debatte zur Klimapolitik müßig ist und man weiter machen kann wie bisher ohne Folgen fürchen zu müssen, ja sogar, dass die jungen Aktivisten doch bitte zurück in die Schule sollten. Ich habe augenblicklich wieder Blutdruck von hier bis Castrop und würde die Belgierin von vorhin gerne nochmal fragen, was genau sie an dem Text für lesenswert und wahr hielt, aber dafür ist es jetzt zu spät. Noch mit dieser Nachricht im Kopf lesen wir in den Nachrichten von den enormen weltweiten Märschen für unser Klima: 4 000 in Perugia. 50 000 in Barcelona. 80 000 in Wien. 150 000 in Madrid. 170 000 in Neuseeland. 500 000 in Montreal und insgesamt knapp eine Millionen Menschen in Italien, davon mehr als 200 000 nur in Rom und 150 000 in Mailand. Das ist der reinste Wahnsinn.

In der letzten Woche waren mehr als 7 Millionen Menschen auf den Straßen. Das ist unglaublich. Das ist die größte Protestbewegung, die es jemals gab. Größer als die Friedensbewegungen aus Zeiten des Kalten Krieges und des NATO-Doppelbeschlusses. Und die Bewegung ist gerade mal ein Jahr alt. Was muss noch passieren, bis ein globales Umdenken geschieht?

Geschrieben am 29. September 2019